[Dieser Text enthält Beschreibungen von Selbstverletzung und Suizidgedanken]
In der falschen Gesellschaft geboren
Ich stehe vorm Spiegel und ziehe mein T-Shirt aus. Der Anblick löst so viel Hass in mir aus, dass ich mir am liebsten wehtun möchte. Das ist nicht mein Körper. Nur Frauen haben so einen Körper und das will ich ganz bestimmt nicht. Ich hasse es eine Frau zu sein und ich hasse Frauen überhaupt.
Ich binde mir die Brust mit einem Verband ab, so wie man es eigentlich nicht tun sollte, und ziehe mein Shirt wieder drüber. Viel besser. Ich betrachte mich im Spiegel von allen Seiten. So sollte das eigentlich aussehen. Wie schön wäre das, so einen flachen Oberkörper zu haben. Am liebsten würde ich nur noch so herumlaufen. Allerdings bekomme ich so auch kaum noch Luft. Ich würde einen Binder tragen, wenn ich könnte, doch niemand weiß davon, dass ich eigentlich kein Mädchen bin. Ich ziehe mich frustriert wieder um und verstecke den Verband in meinem Zimmer.
Ich stehe vorm Spiegel und ziehe mein T-Shirt aus. Der Anblick löst so viel Hass in mir aus, dass ich mir wehtun muss. Ich starre mein Spiegelbild an, das Taschenmesser fest von meiner Hand umklammert. Was ist schon dabei? Ich mache das doch nur dieses eine Mal. Es geht nicht anders. Ich atme tief durch und ziehe mir das Messer über die Brust. Wieder und wieder. Bis überall rote Tränen auf meiner Haut schimmern. Ich fühle mich frei.
„Du möchtest also kein Mädchen sein?“, fragt mich die Psychiaterin. Mein Körper ist übersät von tiefen Narben. Ich blicke zu Boden. „Ich hätte lieber einen männlichen Körper“, antworte ich leise. „Hast du denn schon mal darüber nachgedacht, eine Geschlechtsangleichung machen zu lassen?“, fragt sie weiter. „Ja, das habe ich. Aber ich werde doch immer eine Frau sein, egal was ich an meinem Körper verändern lasse.“ Der Gedanke daran macht mich noch verzweifelter. Ich will das alles nicht. Wieso konnte ich nicht als Mann geboren werden? Es ist schrecklich, diesen Körper ertragen zu müssen und noch schrecklicher, daran zu denken, dass man niemals die Person sein wird, die man eigentlich sein sollte.
Ich lasse mir die Haare kurz schneiden, kaufe neue Kleidung in der Männerabteilung und versuche so gut wie möglich meinen weiblichen Körper dahinter zu verstecken. Obwohl ich das Gefühl auf meiner Haut hasse, trage ich unter meinen Shirts enge Oberteile, damit meine Brust möglichst flach wirkt. Von nun an halten mich die meisten fremden Leute für einen Mann. Irgendwie fühlt sich das gut an, so wie eine Bestätigung. Die Bestätigung darin, dass ich eigentlich gar keine Frau, sondern ein Mann sein sollte und auch als solcher wahrgenommen werde.
Gleichzeitig fühlt es sich einfach falsch an. Ich spiele mir selbst etwas vor. Der Hass auf meinen Körper bleibt. Mein Aussehen ist nur eine Art Illusion für mich selbst, dass ich nicht nur als männlich wahrgenommen werde, sondern tatsächlich ein Mann bin. Doch eigentlich ist es nichts anderes als eine Lüge, die spätestens dann auffliegt, wenn ich mich abends umziehe und so angewidert auf meinen vernarbten Frauenkörper blicke, dass ich mir wünsche ich würde einfach aufhören zu existieren. Ich mag mich kaum noch ansehen.
Das Gefühl, auf ewig in diesem Körper gefangen zu sein, scheint unerträglich. Mein psychischer Zustand verschlechtert sich immer weiter. Die Selbstverletzungen nehmen kein Ende, ich werde immer hoffnungsloser und verzweifelter. Immer wieder werde ich von PsychiaterInnen darauf angesprochen, ob ich denn nicht mein Geschlecht ändern möchte – das scheint wohl die einfachste Lösung zu sein. Bei einem Klinikaufenthalt wurde mir einfach so „transgender(?)“ in meinem Diskurs notiert, ohne dass ich das Thema dort je angesprochen hatte – allein aufgrund meines Aussehens. Ein anderer Psychiater ist wegen meines Erscheinungsbildes so überzeugt davon, dass ich trans sein muss, dass er mich gar nicht richtig ernst nimmt, als ich versuche ihm zu erklären, dass ich daran zweifle, ob das überhaupt richtig ist.
Diesen Zweifeln habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt hier sitze und diesen Text schreibe, als Frau, die ihren Körper zwar mit Narben auf der Haut, aber dennoch unversehrt durch diese schwere Zeit gebracht hat. Im Nachhinein bin ich unendlich froh darüber, auf mein Bauchgefühl gehört zu haben. Darüber, mich keinen Operationen und Hormonbehandlungen unterzogen zu haben. Das Gefühl, im falschen Körper zu stecken, wäre so zur Realität geworden.
An meinem Aussehen hat sich seither nicht viel geändert. Ich trage weiterhin kurze Haare und Kleidung aus der Männerabteilung, schminke mich nicht, rasiere mich nicht, habe immer kurze Nägel und trage keine BHs. Ich konnte mit all den Dingen, die als feminin gelten und angeblich zum Frau-Sein dazugehören, nie etwas anfangen. Und jetzt weiß ich auch, dass das völlig in Ordnung ist und ich genauso eine Frau bin, wie alle anderen.
Mich halten weiterhin einige Leute für einen Mann, doch ich gehe damit ganz anders um. Ich weiß jetzt, wer ich bin. Mir geht es nicht länger darum, unbedingt als Mann wahrgenommen zu werden, weil ich mein Frau-Sein so sehr ablehne. Es passiert eben manchmal, aber es löst keine Emotionen mehr in mir aus und ich komme mir auch nicht länger seltsam dabei vor, jemanden zu korrigieren und zu sagen, dass ich eine Frau bin. Ich möchte eben so aussehen, wie ich aussehe. Ich fühle mich nicht mehr fremd in meinem Körper und ich bin stolz darauf, genauso zu sein, wie ich bin.
©Sara / dragonfly.bbx

Dies ist der zweite Text zur neuen Runde des feministischen Textprojektes „Mein Körper und ich“
Es besteht die Möglichkeit mit deinem eigenem Text dabei zu sein. Meld dich gern bei Interesse.
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Jun 24, 2022 @ 08:06:57
Eine tief anrührende Geschichte. Ja sagen zu dem, der/die man ist!
Jun 24, 2022 @ 09:14:15
Ja empfand ich auch so, mir sind die Tränen gekommen beim lesen. So stark einach.
Jun 23, 2022 @ 20:45:04
Wunderbare Sara, danke für deinen „intimen“ Text! Es tut so gut, die Gedanken andrer zu lesen und sie ein Stück zu verstehen.
Jun 24, 2022 @ 09:14:57
❤