Textprojekt Körper: Öffentliches Eigentum

In den letzten Wochen hat mich eine Frage sehr beschäftigt, eine sehr wichtige Frage, deren Antwort eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Wem gehört mein Körper? Mir selbst? Ich bin mir da nicht so sicher.

Ich fühle mich nicht frei in meinem Körper. Dabei sind wir doch heute angeblich so frei, zumindest in Industrieländern. Hier kann ich meinen Körper immerhin zur Uni bewegen, oder überhaupt alleine nach draußen. Aber soll es das wirklich schon gewesen sein? Wissen wir überhaupt, was Freiheit ist? Die Antwort auf diese Frage ist lang und kompliziert. Jede und jeder muss seinen eigenen Weg zur Wahrheit finden. Das hier ist ein kleiner Ausschnitt meines Wegs zur Wahrheit.

Ich bin ein Lebewesen, das theoretisch Kontrolle über seinen Körper hat. Ich bin in der Lage, Arme, Beine, Hände und Zehen zu bewegen – wenn ich aber etwas Falsches damit anstelle, muss ich mit Konsequenzen rechnen. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein. Wenn ich von einem Gebäude springe, werde ich je nach Höhe ziemlich sicher sterben oder mir „nur“ sämtliche Knochen brechen. Es gibt aber auch Konsequenzen anderer Art. Sie sind viel subtiler. Wenn du nicht das Pech hast, tatsächlich angegriffen zu werden, merkst du vielleicht nicht einmal, dass du zerbrichst, denn es passiert langsam in deinem Inneren. Ich spreche von deiner Seele.

Wenn ich an meine Kindheit denke, fallen mir viele Sachen ein. Es gibt aber wenig, das mich so nachhaltig geprägt hat, wie die ständige Dauerbeschallung mit konservativen Werten und den Erwartungen, wie man als Mädchen oder Frau in einer bayerischen Kleinstadt eben zu sein hat. Ich bin mit sehr viel Slut-shaming aufgewachsen. Es ist wahrscheinlich wirklich die eine Sache aus meiner Kindheit, die mir am lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist. Trotzdem habe ich Jahre gebraucht, um zu verstehen, wie traumatisch diese Erfahrungen tatsächlich waren und wie sich mich als Person beeinflusst haben. Zum Beispiel bin ich früher gern abends spazieren gegangen. Ich hab es geliebt und noch lange gemacht, nachdem ich ausgezogen bin. Der einzige Grund, aus dem ich aufgehört hab, ist, dass ich in eine Gegend ziehen musste, in der ich mich nicht mehr so sicher fühle – aus verschiedenen Gründen. Jedenfalls begann ich damit als Jugendliche. Ich fand die Dunkelheit sehr beruhigend und friedlich. Sie half mir damals, den „Explosionen“ (so nannte ich seine Ausbrüche damals) meines toxischen Vaters zu entkommen.

Apropos toxische Väter, meiner begann schon sehr bald damit, mir vorzuwerfen, ich würde „es darauf anlegen“, was so viel hieß wie, dass ich angegriffen werden wollte, denn mir hätte ja im Dunkeln jemand folgen können. Er ging sogar so weit, dass er anderen Leuten davon erzählt hat, auch wie dumm ich sei, dass ich es „darauf anlegte“, was meines Erachtens noch viel gefährlicher ist als ein Spaziergang nach 19 Uhr. Sein Verhalten hat mich wirklich verletzt, aber ihn zu konfrontieren, hat alles nur schlimmer gemacht. Er war absolut überzeugt davon, dass ich verzweifelt vergewaltigt werden will.

Dies war aber nicht das einzige, das ihn dazu bewegt hat, so etwas zu sagen. Die Art, wie ich mich kleidete – oder Frauen generell – konnte ihn sehr, sehr wütend machen. Ich war nie die Sorte Teenager, die viel Haut gezeigt hätte, aber als ich mein kurzes schwarzes Kleid zur Geburtstagsparty meiner Schwester trug – holy shit! Der Rock war ihm etwas zu kurz, also hab ich es OFFENSICHTLICH wieder darauf angelegt – die einzig mögliche Erklärung, wieso eine Frau ein Kleid tragen würde, das über den Knien endet.

Jetzt denkst du vielleicht, er war ja nur ein besorgter Vater, der nicht wusste, wie er seine Sorgen anders ausdrücken soll? Nein, einfach nein, und zwar deshalb:

  1. Die meisten Opfer von Missbrauch kannten ihre Täter vorher. Die „Verrückten“, die hinter Bäumen und Büschen lauern, gibt es zwar auch, aber sie sind viel seltener, als die meisten Leute denken. Das heißt, er hätte sich von vornherein gar nicht so viele Sorgen machen müssen.1

Er hätte sich mal mehr Sorgen über seinen komischen Kumpel machen sollen, der meine Mutter belästigt hat, als ich ein Kind war (den er immer noch eingeladen hat, obwohl er wusste, was passiert war – witzig, oder?).

  1. Wenn mir irgendwas passiert wäre, hätte ich nicht die Person sein sollen, die dafür verantwortlich gemacht wird. Ich wäre ein Opfer gewesen. Es sollte nicht von Bedeutung sein, was jemand getragen oder nicht getragen hat. Nein heißt Nein!
  2. Anderen Leuten zu erzählen, dass die eigene Tochter missbraucht werden will, gehört wahrscheinlich zu den unverantwortlichsten Dingen, die man als Eltern tun könnte. Was zum Fick!? Vor allem, wenn man bedenkt, dass mein Vater mit jemandem befreundet war, der bereits auffällig geworden war und somit offensichtlich keine Selbstkontrolle hatte.

Wenn ich darüber nachdenke, werde ich traurig. Es ist verletzend genug, als dumm abgestempelt zu werden (eine weitere Sache, mit der Frauen ständig zu tun haben), aber noch viel verletzender, solche Vorwürfe an den Kopf geworfen zu bekommen, und noch dazu zu wissen, dass man sich niemals an die eigenen Eltern wenden könnte, sollte es einem tatsächlich mal passieren. Denn man kann sich eben nicht schützen. Ich verstehe nicht, wie man so sein kann. Die einzige logische Erklärung, die mir einfällt, ist, dass mein Vater Frauen als sexuelle Objekte sieht, die keine Kontrolle über ihre eigenen Körper haben sollten. Das klingt vielleicht erstmal extrem, aber warum sollte jemand so denken, außer er sexualisiert Frauen selbst permanent? Es ist ja nicht so, als gäbe es gesellschaftliche Bestrebungen, davon wegzukommen. Im Gegenteil, das ständige Sexualisieren von Frauenkörpern wird noch bestärkt, siehe zum Beispiel in der Werbung.

Diese Erfahrungen hatten definitiv Einfluss darauf, wie ich mich in Bezug auf meinen Körper fühle – und Männer. Ich habe das viele Jahre nicht gemerkt. Ich wusste, dass ich ein Problem hatte, aber konnte nicht sehen, wo die Wurzeln lagen und welcher Natur das Problem war. Ich habe Männer als Kind schon als Autoritätspersonen gesehen. Ich habe sie als stark und kalt wahrgenommen, während Frauen nett und weich waren. Männer waren diejenigen, die geurteilt haben, vielleicht sogar bestraft – Frauen waren diejenigen, die einem noch eine zweite Tafel Schokolade gekauft haben, wenn der Mann gerade nicht hinsah.

Trotzdem habe ich nie verstanden, wie das als Erwachsene einen Einfluss auf mein Sexleben haben könnte. Es ist ja nichts passiert, oder? Niemand hat mich vergewaltigt.

Es wäre allerdings naiv anzunehmen, dass es nicht schädlich sei, solche Dinge immer und immer wieder zu hören, während man aufwächst. In meinem Fall führte es zu einer ständigen, unbewussten Angst vor Männern. Ich habe keine Angst vor Männern im Allgemeinen, ich kann mit ihnen befreundet sein, mich unterhalten und zusammenarbeiten. Wenn ich aber kurz davor bin, mit einer neuen Person Sex zu haben, kann ich mich einfach nicht entspannen. Irgendein Teil von mir ist absolut davon überzeugt, dass mir der Typ vor mir wehtun wird, auch wenn er eigentlich ziemlich nett ist. Ich kann es nicht einmal richtig erklären. Es ist eine tief verwurzelte, existenzielle Angst, fast als wäre ich kurz davor, mit einem wilden Tier zu schlafen. Nackte Männer machen mir eine scheiß Angst! Das macht mich sehr traurig, denn ich liebe Sex! Es sollte definitiv etwas sein, das ich genießen kann.

Unglücklicherweise hat mich meine Angst noch nie davon abgehalten, mit jemandem zu schlafen – egal wie oft die Männer mich gefragt haben, ob es wirklich okay ist, nachdem ich vor ihnen geheult hatte. Viele Frauen werden emotional, wenn sie mit jemandem intim werden. Das muss nicht zwangsläufig heißen, dass sie irgendein Trauma haben, man lässt immerhin jemanden sehr nah an sich ran, was im Alltag eher selten passiert. In meinem Fall war das allerdings definitiv ein Warnsignal. Immer.

Ich ignorierte meine Angst und machte weiter. Ich wusste nicht, wie man Nein sagt. Theoretisch wusste ich, dass niemand etwas tun sollte, das er oder sie nicht will, aber das machte es mir nicht einfacher, Grenzen zu setzen. Ein Teil von mir hatte das Gefühl, den Männern das, was sie wollten, schuldig zu sein. Manchmal fühlte ich mich danach furchtbar und benutzt, in den meisten Fällen fühlte ich mich aber gut – nicht weil ich Spaß gehabt hätte, sondern weil ich Bestätigung bekommen habe. Ein Mann findet mich gut! Jackpot!

Ich weiß nicht, wie Sex mit jemand neuem heute für mich wäre, denn ich bin inzwischen schon eine ganze Weile in einer monogamen Beziehung. Ich weiß nur, dass es einer Menge Frauen so geht, mehr als wir gerne denken, und die einzig logische Erklärung, die mir dazu einfällt, ist, dass weibliche Körper so eine Art öffentliches Eigentum sind. Natürlich gibt es Gesetze, die besagen, dass Vergewaltigung verboten ist, und trotzdem gibt es eine Menge Männer, die nie verurteilt wurden und Frauen, denen entweder nicht geglaubt oder die Schuld gegeben wird für das, was ihnen passiert ist. Manchmal ist es fast, als wären wir nur so etwas wie Wächterinnen über unsere Körper, bis jemandem danach ist, einen zu benutzen, und wir in den Hintergrund treten.
Ich sage nicht, dass jeder einzelne Mann auf der Welt so denkt, aber sehr viele Frauen denken so, unbewusst, denn Frauen haben keine Kontrolle über ihre Körper. Wenn sie sich entscheiden, etwas zu tun, dass die Männer (oder auch konservativen Frauen) um sie herum nicht gut finden, hat das Konsequenzen. Wenn sie sich weigern, etwas zu tun, na ja, hat das manchmal auch Konsequenzen. Die ganze Situation ist absurd und nur noch erbärmlich.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Laufe unserer Erziehung alle zu einem gewissen Grad gebrochen werden. Ich werde abhängig gemacht. Zwar haben wir in Deutschland heute nicht mehr das Problem, keinen Zugang zu Bildung zu haben (vorausgesetzt die soziale Herkunft stimmt, aber das ist ein anderes Thema), aber wir sind abhängig von den Meinungen der Gesellschaft, insbesondere der Männer. Wenn wir aus der Reihe tanzen, haben wir es unter Umständen mit Benachteiligung, Mobbing, Slut-shaming, Ausschluss aus der Familie, Belästigung, im schlimmsten Fall Femizid zu tun. Die Liste ist lang. Das heißt aber nicht, dass das so bleiben muss!
Wenn wir uns das Problem bewusst machen, können wir etwas tun – zumindest zu einem gewissen Grad. Überlegt euch immer sehr gut, wen ihr wählt, unterschreibt Petitionen, teilt Artikel zum Thema… Manchmal bringen auch kleine Veränderungen schon viel. Tatsächlich trage ich in diesem Moment eine Vulva-Kette als Akt der Rebellion. Ich liebe meine Vulva genauso wie ein Mann seinen Penis. Durch sie fühle ich mich gut und das reicht. Ich bin noch nicht vollständig geheilt von meinem Trauma, ich habe immer noch eine Menge Probleme, aber kleine Dinge wie meine Kette sind unglaublich hilfreich, denn sie sagt mir jeden Tag: „Dein Körper gehört eigentlich dir, und du hast eine großartige Pussy!“
Kleiner Nachtrag: Als ich diesen letzten Satz geschrieben habe, war er mir zunächst peinlich, er erschien mir fast absurd. Aber seht euch mal um: In Bezug auf Männer geht es ständig darum, wer den besten oder größten Cock hat, und sei es auch nur als Scherz gemeint. Wenn eine Frau etwas Ähnliches über ihre Vulva sagt, wird es als „weird“ empfunden. Tja, mir egal.

©Xenia


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