Textprojekt Körper: Lieber Körper

Lieber Körper,
ich habe viel über dich nachgedacht und über uns. Es heißt, in einer guten Beziehung, nimmt man den anderen wahr, wie er ist. Mit offenem Herzen und wohlwollendem Blick. Wir hatten keine gute Beziehung.
Wir haben beide gelitten, ich unter allem, du unter mir und irgendwann dann auch ich unter dir.
Ich hab deine Lebendigkeit erdrückt, dir keinen Raum gegeben.
Dies wird keine Entschuldigung, Schuld gab’s genug. Aber ich übernehme die Verantwortung, für das, was ich dir angetan habe. Vielleicht ist dieser Brief eher ein (Ein)Geständnis.

Ich konnte nicht zuhören. Du solltest für mich funktionieren, ich wollte dich manipuliert. Ich habe nicht dich gesehen, sondern wie du sein solltest. Dich an einem Ideal gemessen, von dem ich inzwischen bezweifle, dass es mein eigenes war. Ich habe es nie lang genug hinterfragt. Ich war stolz, wie gut es mir gelang dich zu formen, zu beherrschen, dich über deine Grenzen zu treiben. Absolute Überlegenheit. Schön war das nicht. Verzeih.
Ich kannte, konnte es nicht besser.
Ich war und bin ein Kontrollfreak.
Ich war unsicher, kannte keine Gnade und kaum Toleranz.
Ich hatte mehr Angst um mein Ego, als Sorge um dich.
Schon wieder, ich, ich, ich, ich.
Ich in einem Gewitter aus Selbstanklage. Selbsthass blitzt durch die Schwüle, löst die Spannung.
Ich suche Schutz unter Selbstverleugnung, bis Selbstmitleid zu strömen beginnt.
Mein Selbstwert wird von Zweifeln erschüttert, wie ein junges Pflänzchen vom Sturm. Du solltest seine Festung sein, sein Prunkpalast, keine Angriffsfläche bieten. Richtig, war wichtiger als wir.
Ich fürchte, ich haben viel zu viel in die Fassade investiert, uns verschuldet, bis wir bankrott gingen. Du hast alles gegeben, gereicht hast es nie. Gründe finden sich viele.
Worte sind schnell.
Ich versteck mich dahinter. Wechsel auf die Überholspur, suche eine Abkürzung. Ich will nicht auf deinen Füßen gehen.
Lieber träum ich vom Fliegen, oder erfinde das Beamen.
Wir stoßen an die Grenzen der Natur und taumeln zu Boden.
Jetzt sitzen wir hier mit der Einsicht und starren auf die Scham.
Hinter der Scham liegt ein Trauersee. Reue wabert darüber, wie ein Nebel aus vielen Jahren, Schmerzen, Leiden. Dein Leiden, mein Leiden, unser Leiden.
Du warst mir treu, egal wie sehr ich dich gequält hab. Ich hab es strapaziert, bis mir dämmerte, dass auch du irgendwann aufgibst. Mich aufgibst, des Kämpfens müde, resignierst. Wir haben beide gekämpft und beide immer mehr verloren.
Dieser Kampf ist jetzt vorbei.
Ich kapituliere. Ergebe mich dir. Lass alles los, was war.

Hier mein Friedensangebot.

Ich will deine Forderungen akzeptieren. Deine Grenzen achten. Deiner Weisung folgen. Dir vertrauen, mich leiten lassen.
Mich beugen in Demut. Ich will unter deiner Fahne kämpfen.
Die Narben tragen wir gemeinsam.
Ich brauche dich, mehr als mir lieb ist.
Du brauchst, mehr als mir lieb ist.
Und du brauchst meine Fürsorge.
Wir müssen uns arrangieren.

Vielleicht kannst du mir irgendwann vergeben. Ich kann es nicht erwarten.
Ich bitte um ein Bündnis, ein Bund fürs Leben, denn keiner kann leben, ohne dass der Andere lebt. Treue in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, bis im Tod wir scheiden. Partner?

Sei gewarnt – ich werde in alte Muster fallen. Was andere sagen, wird wichtiger sein als du, wir. Ich werde vor Ego, Tun und Scheinen unser Sein vergessen. Ich werde dich vergessen. Deine Wünsche und Bedürfnisse invalidieren, dir Vorschriften und sinnfreie Verbote machen. Verzeihen. Aber ich will lernen, dich zu lieben, denn ich kann nicht ohne dich leben.
Dieser Brief ist ein Klischee. Aber wahr. Ich will dich zurückerobern. Ich will dich wieder spüren. Deine Haut unter meinen Händen. Mit dir tanzen, lachen, weinen. Für dich kochen und sorgen, wenn du krank bist. Deine Grenzen respektieren. Ich verspreche schon wieder. Lieber Körper, diesmal will ich dich nicht zwingen. Ich bitte dich daher, mir Stück für Stück, Tag für Tag dein Vertrauen zu schenken. Denn wenn mein Kopf schweigt, schlägt mein Herz nur für dich.

©Anonyma


Anonyma: Lesen und Schreiben habe ich in meiner Kindheit geliebt – den Zugang dazu die letzten Jahre vor lauter Alltag und Studium immer wieder verloren. Keine Zeit, keine Ruhe. Auch nicht, um aufmerksam in meinen Körper zu spüren. Achtsames Schreiben ist mein Weg zurückzukehren, kostet Überwindung, riskiert Gefühle und ist sehr heilsam.


Dieses Kapitel feministischen Schreibens über den Körper geht nun, wie angekündigt, so langsam zu Ende, Nachzüglerinnen sind aber herzlich willkommen. Manchmal braucht ein Text einfach länger. Vielleicht wird es dieses Jahr noch einen weiteren Aufruf geben, sonst dann nächstes Jahr. Und irgendwann dann ein kleines Ebook mit allen Geschichten. Meld dich einfach bei Interesse: madameflamusse@googlemail.com


Zu den anderen Texten

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2 Kommentare (+deinen hinzufügen?)

  1. mikesch1234
    Aug 29, 2022 @ 07:02:17

    Einfach nur ganz wunderbar!
    Genau „mein“ Text.
    Danke.

    Antworten

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