Die Tochter

… so heißt das Buch mit dem schönen Cover von Lori Metha, geschrieben von Kim Hye-Jin, erschienen dieses Jahr bei Hanser Berlin, übersetzt von Ki-Hyang Lee.

Am Anfang aber steht die Mutterfigur dieser Konstellation und sie bleibt auch die Haupterzählerin. Sie berichtet uns von ihrem Alltag und ein wenig auch von ihrer Geschichte, wir werden teilhaben an ihrem oft festgefahrenem Blick auf ihre Tochter und deren Freundin. Und wir sind dabei, wenn sie sich um ihren Pflegling kümmert, eine einstmals bekannte Dame, die weit gereist ist und nun dement als Pflegefall ihre Tage in einem Altenheim verbringt. Ihr letztes Stück Leben scheint klein und belanglos und bewegt trotzdem soviel in dieser Geschichte.

Diese Mutter, mit ihr beginnt die Geschichte. Sie, ihre Sicht und ihre Worte und Gedanken. Mehrfach hat mich das irritiert und ins Stocken gebracht. Es war ungewohnt, diese Sicht.
Die Mutter trifft sich mit ihrer erwachsenen Tochter. Sie selbst ist Witwe, lebt allein in ihrem alten Haus und arbeitet als Altenpflegerin, um ihre Rente aufzubessern. Ein Gedanke der sie sehr beschäftigt:

„Warum macht sie mich so unglücklich? Warum ist meine Tochter so grausam zu mir?“

Die Mutter schämt sich für ihre Tochter, zutiefst.
Und das ist eine Sache, die einen an dieser Geschichte am Anfang stolpern lässt. Es passt nicht so ganz in das allgemeine Bild einer „guten“ Mutter. Diese vielen Urteile über die eigene Tochter. Die Scham und die Wut, dass das Kind nicht „richtig“ geworden ist. Und auch noch das falsche Geschlecht liebt und merkwürdigen Aktivitäten nachgeht.
Und schlussendlich aber wieder, ganz das übliche Frausein: die Suche nach der eigenen Schuld, den eigenen Fehlern. In diesem langen ersten innerem Dialog.

~

Ich denke, viele Töchter kennen diese Haltung der Mutter wiederum sehr gut. Es gibt soviel was falsch ist, so viel Ungeratenes, soviel was nicht den Erwartungen entspricht und einen lang ins eigene Leben hinein verfolgen kann. Das Gefühl falsch zu sein, weil die Mutter genau das einen immer wieder spüren ließ. Selten aber so in Worten ausgedrückt, wie dieser Text es hier tut.
Die Tochter hat in den Augen der Mutter viele Fehler, und trotzdem kommt es so, dass sie wieder zu Hause einzieht und ihre Freundin mitbringt. Gegen den Willen der Mutter. Es gibt keine andere Lösung.

Nachdem ersten stolpern und stocken wird die Geschichte langsam flüssiger. Wir erfahren Stück für Stück mehr zu den Protagonistinnen. Ein vollkommen weibliches Buch. Einfach wundervoll und viel zu selten. Wie gut das tut, über weibliche Befindlichkeiten und weibliches Leben zu lesen. In diesem ganz und gar weiblichem Rahmen.
Eine Autorin: Kim Hye-Jin, die 3 Frauen: Mutter, Tochter, Freundin, eine lesbische Liebe, und schlussendlich noch die sehr wichtige Person: Die alte Dame, die die Mutter im Altenheim pflegt.

„Was können Sie schon für diese Menschen tun, die sowieso am Ende ihres Lebens stehen? Es ist traurig, aber sie wissen es doch wie es ist. Das ist der Lauf der Dinge.“

3 Generationen treffen in diesem Buch aufeinander. In einem Metaraum, den Gedanken der Mutter, am Ende dann tatsächlich ganz materiell und wesentlich.
Zwischen Ruhe vorm Sturm, einem gereiztem Elefanten im Raum, bis zur Stille, Müdigkeit, weiter zum Streit, sich aus dem Weg gehen bis hin zum Miteinander das sich finden muss, Gemeinschaft und einer unglaublichen Horizonterweiterung sind in diesem Stück Geschichte vielen Stimmungen und Bindungen zu finden.

„Das Kind, das ich zur Welt gebracht habe, ist mir so fremd, wie einem jemand nur fremd sein kann.“

Es braucht einen Sturm bzw. zwei für die Verwandlung der Raupe zum Schmetterling; einen lauten, großen, gewaltigen und einen leisen, kaum zu ahnenden und tiefgehenden. Diese Stürme und ihr aufeinandertreffen werden aber nicht bei der Tochter, sondern bei der Mutter stattfinden. Und sie werden eine wichtige Tür aufstoßen, was das Leben und vorallem die Sicht der Mutter wesentlich ändern werden.
Wir finden wunderbar geschriebene Streitdialoge und stille Beobachtungen. Eine dynamische Geschichte voller aufbrechender Krusten und Veränderung.

„Ohne Erwartungen, ohne Hintergedanken, ohne Furcht möchte ich Fragen stellen und auf die Antwort warten.“

So langsam wie die Geschichte Fahrt aufnahm, soviel Weisheiten stapeln sich förmlich am Ende, hier konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Es ist zwar eine Geschichte aus Korea, aber vieles könnte genauso hier spielen. Die alten Muster, Traditionen und Meinungen. Das vermeintliche Wissen wie etwas zu sein hat und werden soll, bis hin zu unseren Nächsten, und der Ansicht der Anderen, vor denen man sich fürchtet. Der Streit mit der Realität – diesen können wir nicht gewinnen. Nichts ist stärker als das, was ist. Die Realität schert es nicht, was wir möchten oder was wir von ihr halten.
Was wir können, ist sie uns genau anzuschauen, ihr zuzuhören und Wege zu finden, damit umzugehen. Das ist oft schwer, hart und beängstigend, aber am Ende findet sich Authentizität und Offenheit, und das ist ein wunderbares Gefühl. Ein Raum voller Liebe und Wertschätzung, und einem Handeln welches weiß was zu tun ist und es tut.

Die Autorin zeigt uns mit dieser Geschichte, dass unser veränderter Blick alles verändern kann. Und die Geschichte, die zu dieser Einsicht führt, ist klug gewoben, vielschichtig und tief. Eine wirklich gute Lektüre.



Die Tochter
von Kim Hye-Jin
Übersetzung Ki-Hyang Lee
Hanser Berlin 20,- €

Bewertung: 5 von 5.

Kim Hye-jin, geboren 1983 in Daegu, ist eine koreanische Schriftstellerin. Für ihre Romane wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2020 mit dem Daesan Literaturpreis, dem wichtigsten seiner Art in Südkorea. Mit Die Tochter erscheint erstmals ein Roman von Kim Hye-jin auf Deutsch.


Coverbild von der Künstlerin Lori Metha https://www.lorimehtaart.com/

Ich bin dein Mensch – Film und Geschichte

Wir hören Schritte und Musik. Absatzschuhe. Ein Orchester? Na ja, ein kleines Orchester, oder sagen wir Band. Aber die Atmosphäre ist schon besonders. Wir befinden uns in einem Tanzetablissement, eins von denen, die heute schwer zu finden sind. Alles etwas flauschig, kleine Tanzfläche mit Tischchen drumherum, eine Bar, so ein wenig 40er Jahre Style. Auch die Protagonistin, schlicht aber elegant gekleidet in einer weißen seidigen Bluse, sie wird als Dr. Felser angesprochen, schaut sich interessiert um und trifft nach dem Empfang auf einen Mann, der sie mit „Hallo Alma, ich bin Tom“ begrüßt.
Sie setzen sich und Tom ohne Nachnamen sagt: „Du bist eine wunderschöne Frau Alma“, legt dabei seine Hand auf die Ihre. Beim nächsten Satz zieht Alma ihre Hand weg. Später erfahren wir warum.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Film keine 2 Minuten alt und wir mittendrin, so wie Alma später mit Tom. Kein langes Vorgeplänkel.
Dieses erste Treffen erinnert an toxisches Lovebombing, bei dem das Gegenüber mit Komplimenten überhäuft wird und die toxische Person viel Interesse heuchelt, und das bevor man sich überhaupt wirklich kennengelernt hat.
Hier ist das ganze aber anders. Tom ist ein Roboter und passend für Alma programmiert, nach ihren Wünschen und Vorstellungen.
Alma Felser hat eingewilligt für 3 Wochen einen Roboter als Partnerersatz zu testen. Im Film ist sie eine Forscherin, die grade an ihrer wirklich großen Promotion arbeitet, mit eigenen Räumlichkeiten und studentischen Hilfskräften. Überhaupt wirkt alles sehr privilegiert in diesem Film. Alma, ihre Wohnung, ihre Kleidung, ihre Arbeit, das Umfeld und nun auch Tom.

Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte von Eva Braslavsky, welche im Buch „2029 Geschichten von Morgen“ im Suhrkampverlag erschienen ist. Es gibt eine ganz interessante Einleitung zur Entstehung dieser Kurzgeschichtensammlung, leider mit einem schlimmen Spoiler zu Almas Geschichte, die im Buch eine ganz andere ist als im Film.
Alma wird im Buch als reife erfahrene Frau geschildert, ab wann ist man das? Sie ist Paartherapeutin in der Kurzgeschichte und es ist sehr heikel, dass sie als Verteidigerin der menschlichen Paarbeziehung nun einen Robotermann an ihrer Seite hat. Deswegen findet ihre „Beziehung“ auch erstmal nur zu Hause statt. Was den Roboter mit der Zeit stark irritiert. Er ist programmiert zu lernen, programmiert auf Beziehungsgeflechte des Menschen, er entwickelt sich beständig weiter, passt sich an oder auch nicht. Er „will“ Erfahrungen sammeln.

Es wirkt im Film und auch im Buch so, als könnten Roboter Gefühle entwickeln oder zumindest sehr gut imitieren, was für die Menschen Nähe erzeugt. Gefährlich ist aber wohl die Entwicklung eines Willens oder wurde der schon mitgeliefert? Es sind Geschichten, es sind Thesen. Wir wissen nicht wie das wäre, die Fragen aber durchaus spannend.

Ich mag Geschichten über die Zukunft und Science Fiction. Und wir wissen ja aus der Vergangenheit, dass sich so manches erfüllt. Sollen diese Roboter Menschenrechte bekommen? Darum geht es bei dem Experiment im Film. Im Buch haben sie bereits Rechte und das bringt die Menschen am Ende in Bedrängnis, wie man zwischen den Zeilen herauslesen kann, und wie uns es das Ende leider auch verdeutlicht.

Lange Einstellungsprotokolle musste Alma vor dem Kauf ausfüllen, endlose Fragen beantworten, wie Tom sein soll. Und sie muss zustimmen, dass sie ihn gut behandelt, eine Art Gelöbnis wird ihr abgenommen.
So einfach ist das alles nicht, wenn alles nach Wunsch geliefert wird, das wird schnell klar in der Geschichte, aber auch im Film.
Alma ist noch nicht so ganz über eine Trennung hinweg und sie scheint mir manchmal etwas grummelig, und ich kann das gut nachvollziehen und finde sie sehr sympatisch. Tom ist eine kleine Klette und will irgendwie beschäftigt werden, er will Aufmerksamkeit, und zwar von seinem Menschen Alma. Macht er nicht alles was sie sagt? Könnte man meinen, aber nein tut er nicht. Alma ist skeptisch und wachsam. Testet den Roboter auch aus. Und Tom macht das, auf was er programmiert wurde. Wer hier wem zu Diensten ist, das ist manchmal fraglich.


Ja wie wäre das wohl, wenn uns ein Menschroboter, auch Humanoid genannt, an die Seite gestellt werden würde, der ganz nach unseren Wünschen programmiert ist? Also klar ein Roboter, aber so extrem menschlich das man kaum einen Unterschied feststellen kann, was vielleicht auch eins der Grundprobleme überhaupt ist. Oder auch das, was sich so mancher genauso wünscht.
Jemand der ihm sehr ähnlich ist und genau so reagiert wie man möchte. Unterstützt das nicht nur das Ego? Werden Menschen dadurch nicht einfach abhängig von Maschinen, weil diese ihnen eben das erzählen, was sie wollen, und ihnen entgegenkommen, kaum kontrovers agieren? Ich denke, Menschen werden so ersetzbar, dass echte Beziehungen nicht mehr stattfinden, weil sie dann zu reibungsintensiv wären. Da ist so ein Roboter schon bequemer, man weiß auch ungefähr was zu erwarten ist. Vielleicht ist auch das, was die flauschige Atmosphäre des Films transportieren soll. Es ist ein Phantasieleben in welchem wir noch mehr um uns selbst kreisen würden.
Und ich frag mich auch wie das dann eigentlich mit dem Nachwuchs werden soll. Dazu gibts auch Ideen im Buch, in den anderen Geschichte, die weitere Welten der Zukunft erfinden.

In vielen Geschichten mit Humanoiden geht das ganze nicht sehr positiv aus. Dagegen ist der Film „Ich bin dein Mensch“ sehr lieblich, sehr weich und glatt irgendwie, es gibt viele bezaubernde Szenen. Alma ist eine perfekte Frau in meinen Augen, schlau, schlagfertig, selbstständig, mit Power. Sie ist liebevoll und fürsorglich, hat Humor, Geschmack und sie ist kritisch und irgendwie immer gut gekleidet.
Im Film gibt es eine Nebengeschichte. Wir treffen Almas verwirrten Vater, ihre Schwester und ihren Neffen und erfahren, wie sie als Familie miteinander umgehen, was wirklich schön anzusehen ist, fast schon zu idyllisch. Sie zeigt uns Alma wie sie privat ist.

Im Buch erfahren wir nichts über ihre Familie, dafür spielt auch hier der Exfreund eine wichtige Rolle, aber auch ganz anders als im Film. In der Kurzgeschichte spielt ihr Beruf als Paartherapeutin eine Rolle, diese konfrontiert Alma zusätzlich mit den ganzen Beziehungsthemen. Und diese Beziehungsfragen stellt die Geschichte ja auch im Ganzen. Was macht Beziehung eigentlich aus? Was braucht es? Wie ist das so mit den Bedürfnissen und was braucht es für die Liebe? Reicht die Liebe von einer Seite bzw. kann man das, was Tom als Roboter als Liebe zeigt, wirklich als Liebe bezeichnen? Es ist doch eigentlich ein Spiel, da eine Maschine keine Gefühle hat. Was wir beim Menschen verwerflich finden würden, nämlich das Vorspielen von Liebe, ist beim Humanoiden gewollt. Fördert das nicht nur den eh schon starken Narzissmus in der Gesellschaft?

So unterschiedlich die Geschichten im Film und im Buch verlaufen, so unterschiedlich enden sie auch. Total gegensätzlich. Die Originalgeschichte hat nicht diese ruhige Lieblichkeit, wo trotz allen Herausforderungen ein Gefühl von Zärtlichkeit, Freisein und einer guten Welt rüberkommt. In der Geschichte wird viel mehr Stress spürbar, die Fehlbarkeiten von Menschen, Maschinen und ihre Auswirkungen, die am Ende zerstörerisch sind.

Ein süßer Traum von einem selbst geschaffenen auf mich abgestimmten Wesen bleibt vielleicht besser ein Traum.


Der Film „Ich bin dein Mensch“ lief im Kino und findet sich noch bis Ende März in der ARD Mediathek

Über das Buch werde ich nochmal gesondert berichten. Leider gibt es vielmehr Geschichten von Männern als von Frauen. Und auch die Entstehungsgeschichte ist eine Männergeschichte, deswegen kann ich nur für diesen Artikel den #literaturvonfrauen vergeben, aber nicht für das ganze Buch.
Das Projekt „2029“ entstand vor dem Hintergrund das kaum noch Zukunftserzählungen zu sehen seien und zu lesen schon gar nicht. Ich stimme ein Stück weit zu. Allerdings kenne ich einige Serien die sich mit der Zukunft beschäftigen. Literarisch muss ich mehr suchen. Mir ist es eine Freude wieder mal einzutauchen in Geschichten und Utopien und Ideen davon wie es wohl sein könnte. Was ich wieder nicht verstehe, das ist die starke Abweichung von der Originalgeschichte. Eigentlich erzählt der Film etwas anderes als die Kurzgeschichte.
Aber wie auch immer, ich denke wir brauchen den Blick in die Zukunft um das Jetzt weiter zu entwickeln.

Bei uns können wir vielleicht nun auch Emma Braslavsky (1971 geboren in Erfurt) zu den Zukunftserzählerinnen zählen. Sie hat ein ganzes Buch geschrieben zum Humanoidenthema. „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“.

Viele Informationen findet ihr auf ihrer Seite: https://emmabraslavsky.de/
Sie hat inzwischen einige Preise für ihre Arbeiten bekommen. 2021 gewann sie z.B. das Literaturstipendium in Thüringen https://www.boersenblatt.net/news/preise-und-auszeichnungen/12000-euro-fuer-emma-braslavsky-164855
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2019 / Radiobeitrag
https://www.swr.de/swr2/literatur/av-o1144236-100.html
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Emma Braslavsky bei Perlentaucher
https://www.perlentaucher.de/autor/emma-braslavsky.html
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Andere neuere Filme und Serien mit Humanoiden
Real Humans – Echte Menschen (2012 – 2014)
Humans (ab 2015)
Black Mirror (ab 2011)
Westworld (2016)
Almost Human (2013)
Raised by Wolves (2020)
I, Robot (2004)
A.I. – Künstliche Intelligenz (2001)
etc.
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weiteres zum Thema:
https://www.deutschlandfunk.de/roboter-sind-auch-nur-menschen-100.html
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https://www.planet-wissen.de/technik/computer_und_roboter/kuenstliche_intelligenz/pwiekuenstlicheintelligenzundbewusstsein100.html
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2010 / https://www.sueddeutsche.de/digital/kuenstliche-intelligenz-man-kann-mit-robotern-eine-ehe-fuehren-1.342591-0
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2019 / Ethische und soziologische Aspekte der Mensch-Roboter-Interaktion (PDF)
https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/F2369.pdf?__blob=publicationFile&v=5
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2005 / Mensch-Roboter Interaktion – eine sprachwissenschaftliche Analyse
https://www.uni-kassel.de/upress/online/frei/978-3-89958-130-0.volltext.frei.pdf
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2018 / Entgrenzungen zwischen Mensch und Maschine, oder: Können Roboter zu guter Pflege beitragen? https://www.bpb.de/apuz/263682/entgrenzungen-zwischen-mensch-und-maschine-oder-koennen-roboter-zu-guter-pflege-beitragen

Lust & Frust

Mutterkonflikt, therapeutisches und Lebensmittel mit ein wenig Religion und viel Liebe – ich dachte genau das erwartet mich beim Roman „Muttermilch“. So zumindest, wurde es mir auf dem Buchrücken angekündigt.


Leider hab ich etwas ganz anderes bekommen und bin, ehrlich gesagt, enttäuscht. Was habe ich gefunden in diesem Buch mit dem wunderbaren Einband, darunter in Knallpink, mit immerhin 326 Seiten und einer Geschichte in 79 Kapiteln?

So war der Anfang, ich zitiere mich mal selbst:
„Muttermilch von Melissa Broder aus dem Claassenverlag und ich mag es sehr 🎉🍀 ich folge Rachel beim Kalorienzählen und genießen ihrer Diätprodukte. Begleite sie in den Yoghurtladen und zur Therapiestunde. Grade macht sie Mutterdetox und hat eine interessante Frau kennengelernt. Alles sehr humorvoll und genießerisch erzählt. Die Gestaltung des Buches passt großartig zum Inhalt.“
und
„Die knallige Covergestaltung gefällt mir und drinnen geht’s genauso munter weiter. Schon am Anfang wird klar, hier haben wir eine wahrhaft leidenschaftliche Menschin und es geht um wesentliches. Nahrung (warum, wie und wo und natürlich was) und Familie („er stellte es so dar, als ob es etwas Gutes wäre“).“

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Doch irgendwie rutscht das Thema mit der Mutter und der Therapie vollkommen beiseite. Die Familie von Rachel spielt bald kaum noch eine Rolle. In einigen Kapiteln aber kommt die jüdische Familie ihrer Freundin ins Spiel, und diese sind eher streng jüdisch, wie Rachel bei zwei Einladungen erfahren muss. Beim ersten Mal geht noch alles gut, und auch hier genießt sie alles aus vollen Zügen, inklusive der Erinnerung an jüdische Rituale und Gesänge. Beim zweiten Mal schlägt das ganze um…

Bis zum Ende des Buches habe ich kein richtiges Bild von Rachels Aussehen, im Gegensatz zur wichtigsten zweiten Figur, der Frau aus dem Yoghurtladen. Rachel zählt Kalorien und hat einen strengen Essensplan inklusive fester Einheiten im Fitnessstudio, sie ist nebenbei Comedian. Erst kontrolliert sie sich selbst immens, um später sich vollkommen grenzenlos ihren Gelüsten hinzugeben, und das in einer Geschwindigkeit und mit soviel Selbstverständnis, dass ich es kaum glauben kann. Ich hab im Laufe des Lesens auf jeden Fall Hunger bekommen und Lust mal endlich wieder Essen zu gehen.

Alle Themen verschwinden schließlich hinter der Geschichte mit Miriam, der Frau aus dem Yoghurtladen. Sie verkörpert für Rachel die Sinnlichkeit in Perfektion. Statt Mutterdetox, Therapie, Kalorienzählen und Familie geht es nun sehr viel um lesbische Liebe und Sex. Das ging mir dann irgendwann ziemlich auf die Nerven. Ich muss sagen, wenn ich vorher gewusst hätte, dass dies ein so großes Thema des Romans ist, hätte ich ihn gar nicht gelesen, es war mir auch zu viel der expliziten Beschreibungen.

Ich habe das Buch trotzdem zu Ende gelesen, weil ich hoffte, dass die versprochenen Themen doch noch zur Sprache kommen. Aber nein, dem war nicht so. Insofern, ja der knallige Inhalt spiegelt sich im knalligen cover und der Titel, auch dafür finden sich einige Deutungen. Ich will aber nicht zu viel Spoilern, falls ihr das Buch noch lesen wollt.

Was für mich nicht zutrifft ist das Zitat: „Muttermilch feiert die Befreiung des weiblichen Körpers“, es feiert die lesbische Liebe, ok, damit kann ich mitgehen. Aber ich hoffe doch, dass die Körperlichkeit von Frauen sich noch anders befreien und feiern kann.

Was nun eigentlich diese Muttermilch ist, die der Titel nennt ist mir nicht so ganz klar. Brüste spielen aufjedenfall eine Rolle im Buch. Aber vielleicht ist es auch eine Metapher für die fehlende Mutterliebe die durch Frozen Yoghurt und später andere Leckereien ersetzt wird, oder auch die Körpersäfte der Geliebten, oder sie steht für den Anteil des inneren Erwachsenen, der sich schlußendlich, wenn alles gut lief, selber nährt.


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Melissa Broder
„Muttermilch“
24,00 €

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Ich danke dem Verlag Claassen für das Rezensionsexemplar

Kleine Feuer … – Die Serie


Kleine Feuer überall

Nachdem ich mit Genuß das Buch gelesen habe war ich sehr gespannt auf die Verfilmung, kann diese aber eben auch nur aus der Perspektive der Originalgeschichte bewerten.

Ich muß sagen die Geschichte ist absolut hochwertig verfilmt wurden, aber es wurde einiges verdreht und hinzugefügt. Das ärgerte mich enorm, denn die Buchvorlage ist sehr sehr gut. Gern hätte ich verstanden warum es Änderungen gab.

Die Hauptrollen spielen 2 Familien, einmal eine alleinstehende Künstlerin mit Tochter, die von Ort zu Ort ziehen und dann eine Familie mit Mutter, Vater und 3 Kindern die schon seit Generationen am selben Ort wohnen, und eher der klassischen Aufteilung folgen. Dies ist eine Besprechung mit Spoilern.
Diese beiden Familientreffen aufeinander als die Künstlerin mit ihrer Tochter in die Stadt kommt: Mia. Mia mietet eine Wohnung bei Elena, und hilft ihr später auch im Haushalt. Die Kinder freunden sich an – Pearl hat mit jedem von Elenas Kindern eine besondere Beziehung. Und so wie Mia, die Künstlerin das schwarze Schaf in ihrer Familie ist, so ist es auch die jüngste Tochter von Elena, die eine wichtige Rolle in der ganzen Geschichte spielt.
Eine der größten Stärken der Erzählung sind die Darstellungen der feinen Dynamiken die sich in Beziehungen so abspielen, grade in Familie. Und wie sich Vieles über die Jahre sammelt und dann auch entzündet.

Die Geschichte ist phantastisch, es werden sehr viele Themen angesprochen und die Frauen haben hier aufjedenfall die Oberhand – sprich sie haben die Hauptrollen. Wobei die Männer im Buch noch viel mehr im Hintergrund stehn und in der Verfilmung der Vater der Familie plötzlich sehr viel zugeschrieben bekommt und eine starke Meinungsmache betreibt, fand ich schade. Im Buch ist er eher unsichtbar, immer auf Arbeit.

Was mir als Hinzufügung bei der Verfilmung unglaublich gut gefallen hat war die Darstellung von Mutterschaft – das wird leider im Buch nur knapp thematisiert. In der Serie bekommt das einen großen Raum und man sieht die Schwierigkeiten, die Nerven die am Ende sind, die Liebe zu den eigenen Kindern aber auch die Ablehnung die man gegenüber ihnen empfinden kann… wirklich grandios dargestellt von Reese Witherspoon, die in der Serie die weiße priviligierte (Ehe) Frau spielt.
Kerry Washington in der Rolle der afro amerikanischen Frau und Künstlerin fand ich manchmal etwas befremdlich in ihrer Gestik und Mimik, was sicher auch mit dem Buch zusammenhängt, man hat da sein eigenes Bild im Kopf, und in der Verfilmung sind alle Personen etwas anders. Leider gehen auch die Beschreibungen der künstlerischen Tätigkeit von Mia in der Verfilmung etwas unter und werden verfälscht, was ich grade am Ende sehr sehr schade finde und ich verstehe nicht warum es diese Veränderung in der Verfilmung gebraucht hat. Im Buch beschäftigt sie sich u.a. schon jahrelang mit Fotografie bevor sie studieren geht und bekommt auch ein Stipendium, das geht in der Verfilmung vollkommen unter. Auch das ihr in der Serie eine lesbische Beziehung angedichtet wird, so als könnten sich die Filmemacher nicht vorstellen das es auch eine Liebe neben der sexuellen 2erBeziehung gibt, fand ich nicht gut.

Auch die (sexuelle) Beziehung zwischen Mias Tochter Pearl und Elenas Sohn hat grade am Anfang so einen komischen Beigeschmack in der Serie die es so im Buch nicht gibt.

Es geht immer wieder um „Rasse“ bzw. Ethnie und die Rolle der Mia zeigt auch immer wieder die Prägung die sie explizit als afroamerikanische Frau erfahren hat, sehr gut gemacht … ich bin bei der Buchrezension etwas mehr drauf eingegangen, wollte aber auch nicht zu sehr spoilern. In der Rolle der Mia ziegt es sich am deutlichsten das es etwas ausmacht welche Hautfarbe du hast und wie deshalb mit dir umgegangen wird und die Rolle zeigt das ganz deutlich auf an vielen Details. Bei den Richardson und besonders Elena ist das alles sehr viel subtiler dargestellt – auch weil die Figur sich selbst für offen und gütig und nicht rassistisch hält und ein guter Mensch sein möchte. Es gibt auch noch eine illegale Einwanderin, eine Chinesin und ihr Baby – auch hier werden Rassismusthemen aufgezeigt.

Es ist mir unverständlich warum in der Serie sovieles hinzugefügt wird was es nicht braucht oder warum Dinge und Personen anders dargestellt werden wie in der Originalgeschichte (auch die Story mit der Musiklehrerin geht vollkommen unter dafür werden andere Dinge lang und breit erzählt die so nicht im Buch stehen) – das hätte es einfach nicht gebraucht. Die Filmemacher hätten gut daran getan sich enger an die Originalgeschichte zu halten. Die SchauspielerInnen sind super besetzt, keine Frage und auch die Kameraarbeit/Ausstattung, die kleinen Andeutungen zur Zeit… ist alles super. Die einzige positive Hinzufügung ist das Kapitel zur Mutterschaft. Ach und die Diskussion zum Leseclub und den „Vaginamonologen“ ist auch ganz witzig, die gibt es so im Buch nicht.


Im Buch baut sich alles sehr langsam auf, schwelende Feuer sozusagen. In der Serie dagegen gibt es immer wieder Andeutungen auf eine mehr oder minder brachiale Art und es wird im erzählen Druck gemacht den die Story aber nicht braucht. Die Feinheiten gehen leider verloren. Und trotzdem ist es eine sehr gute Serie, weil einfach die Geschichte gut ist, und ich würde sagen Preisverdächtig in ihrer Art.

Hier zum Artikel über das Buch

Trailer

Viele viele Fragen – Buchgeschenke

Fragen sind immer eine gute Sache, auch wenn manche Personen, insbesondere Eltern mit neugierigen Kindern, wohl eher verneinen würden. Aber im Ernst, Fragen öffnen Welten. Wie oft hört der Mensch sich selber reden, aber zuhören kann soviel spannender sein. Wie lernen wir Menschen besser kennen? In dem wir ihnen Fragen stellen. Deshalb hab ich mich richtig gefreut als mir zufällig dieses Buch über den Weg lief. Ich hatte vorher schon im Netz nach Kennlernfragen gesucht, es gibt ja diese berühmten 100 Fragen… hier aber habe ich sogar 2000 Fragen. Und ich werde sie fleißig stellen und bin unheimlich gespannt auf die Antworten.

Habt ihr Bücher zu Weihnachten verschenkt? Wenn ja was für welche? Und wie sucht ihr diese aus?
Ich habe das gar nicht so kleine Buch der grossen Fragen meinem Freund geschenkt und wir haben uns gleich am Weihnachtsabend ein bisschen ausgefragt. Ziemlich interessant. Sicher auch im Familienkreis ein toller Anstupser für neue Gespräche und vielleicht lernt man mal etwas ganz neues über das Gegenüber.

Das Taschenbuch ist sehr schön gestaltet, schon der Umschlag in seinem tiefen matten Blau mit der goldenen Schrift ist sehr edel und einladend. Fragen gibt es aus zig Bereichen: Fragen über dich selbst und dich und deine Welt, Tod, Geld, Schönheit, Psychologie, Alter, Politik, Liebe Streit, Geschenke… etc. etc. etc.

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Gisela Schmalz

Das kleine Buch der großen Fragen
Die perfekte Inspiration für richtig gute Gespräche
Goldmann / Randomhouse

10,- €

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Gisela Schmalz studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Sie arbeitete als Schauspielerin, Filmvermarkterin, Filmkritikerin, Wissenschaftsjournalistin und Strategieberaterin. Als Professorin lehrt sie Strategisches Management und Wirtschaftsethik. Sie schreibt Sachbücher und interessiert sich für Fragen der Zeit und für das Fragen selbst. Mütterlicherseits ist sie verwandt mit Ernst von Salomon, dem Verfasser von „Der Fragebogen“.

Kleines Ritual – Gedenken und Erinnern

Es ist so weit, die dunklen Zeiten beginnen. Wie ich finde, eine magische Zeit. Dieser Tage wird gefeiert. Halloween, Dia de los Muertos, Allerseelen, Allerheiligen und wie sie alle heißen diese Tage. In unseren modernen Zeiten vermischen sich Traditionen und jeder sucht sich raus was passt. Halloween hat inzwischen ja auch Deutschland erobert. Ja, warum auch nicht. Am Ende geht es immer um dieselben Themen: unsere Ahnen, den Tod und die Erinnerung.
Es wird den Alten und Vorangegangenen gedacht. Wir erinnern uns. Wehmütig oder auch fröhlich mit guten Geschichten. Die Zeit um den Tod mal wieder ins Leben zu holen. Es heißt die Grenzen zwischen den Welten sind nun wie ein hauchdünner Schleier und die alten Seelen kommen zu Besuch, die Sonne dagegen besucht die Unterwelt.
Wollen wir die Seelen empfangen? Oder lieber abwehren? Wie gehst du mit Erinnerungen um? Wie würdigst du deine Ahnen? Lässt du Sie ein? Bist du in Frieden mit Ihnen? Stellst du ein Licht für sie auf? Oder besuchst du den Friedhof? Wie geht es dir mit der dunkleren Jahreszeit?
Richte dir doch eine kleine Ecke ein. Herbstlich gestaltet, mit Blumen – eine Totenblume ist z.b. die Chrysantheme, und wenn du hast, nimm Fotos deiner Vorfahren oder Verstorbenen, Anverwandten und Zugehörigen – ja auch nicht Verwandte zählen dazu. Zünde ein Licht an, als Wegweiser und um die Dunkelheit ein wenig zu erhellen. Vielleicht hast du auch etwas zum Räuchern – z.b. Myrre, Weihrauch, Sandelholz. Gib eine kleine Gabe dazu.
Wenn du keine Bilder hast schreib die Namen auf kleine Zettel. Nimm dir bewusst Zeit an die Menschen zu denken, dich zu erinnern. Nimm Platz. Was hast du mit ihnen erlebt? Welche Geschichte magst du besonders gern? Welcher Schritt ist vielleicht noch zu tun? Was oder wer war dieser oder jener Mensch für dich? Brauchst du noch eine Zeit der Trauer oder des Abschieds oder möchtest eine klare Trennung vollziehen? Was sind deine Anliegen und Themen?
Erinnere dich und schreibe es auf, wenn du magst.
Spüre die Energie, die dabei entsteht. Genieße deine Besinnung und den Kontakt. Schließe das ganze dann bewusst ab z.b. mit dem Löschen der Kerze, einer kleinen Verbeugung oder einem Segensspruch.
Hast du Fragen? Schreib mir einfach.

Japan 4 von 5 – Die Kieferninseln

Die Kieferninseln, ein wunderschönes Cover, von einer Autorin von wegen #LiteraturvonFrauen und das Thema Japan – ich muß sagen auf das Buch war ich echt heiß. Leider mußte ich mich sehr gedulden bis ich es in der Bücherei bekommen habe.

Und dann das: die Begeisterung mancher Leser*innen bleibt mir leider ein Rätsel, bis dato hatte ich nur positive Kritiken gelesen. Aber mir gefiel schon der Anfang gar nicht, aber ich gab mir Mühe, und dachte „nicht zu früh urteilen“ und habe es weiter probiert.
Im Buch geht es um einen Mann der plötzlich abhaut – wieviele Bücher gibt es darüber, und warum wird diese abhauen kaum hinterfragt und immer wieder als so „normal“ einfach so hingenommen?
Der Protagonist ist der Überzeugung das seine Frau ihn betrügt, es wird allerdings angedeutet das dies nicht der Fall ist. Er ist Bartforscher – wird am Anfang erklärt, was bis Seite 104 aber so gut wie keine Rolle mehr spielt. Tja wozu, weshalb, warum? Der Protagonist ist mir einfach extrem unsympathisch, aber ich hatte durchaus auch schon Bücher in denen es mir genauso ging und ich trotzdem sehr gut mitgehen konnte, sogar bis hin zur Einfühlung und eines gewissen Verständnisses. Will sagen, ein nicht gefälliger Protagonist muß nicht stören, ganz im Gegenteil. Hier habe ich keine große Lust dem Herren auf seiner Reise zu folgen.
Meine Frage hier, immer mal wieder, was für eine Frau das ist, die der Protagonist da zurück gelassen hat und warum diese mit ihm zusammen ist. Das Buch wird als tiefgründig und humorvoll dargestellt z.b. auf dem Buchrücken. Ich hab den Humor leider nicht finden können. Und wo jetzt das tiefgründige her kommen soll ist mir auch etwas unklar. Ja es geht um alte japanische Kultur und einen längst toten Dichter, dessen Pfaden der Bartforscher und sein zufälliger Reisegefährte folgen. Ja es wird durchaus etwas über Japan, die alten Traditionen von Dichtung und Ästhetik erzählt… aber sonst? Nur, weil man Themen anspricht oder etwas über sie erzählt ist es ja nicht gleich tiefgründig.
Was ich mich als nächstes, und ganz besonders, Frage: Warum hat die Autorin einen Mann für diese Erzählung gewählt. – Das ganze Buch hat nur 165 Seiten. Bin also mit dem zweiten Anlauf noch ein Stück weit gekommen. Allerdings werde ich es jetzt wirklich sein lassen und nicht weiter lesen, denn wenn es bis jetzt noch nichts war, kann das auch nichts mehr werden. – Allerdings zweifel ich doch immer sehr an meinem Leseverständnis, wenn ich soviele ganz andere Meinungen lese. Wobei ich schon immer wieder mit bekomme das viele High Sensitives, wie ich, einen ganz anderen Humor haben, als die Durchschnittsbevölkerung. Aber ob es daran liegt? Ich weiß es nicht. Irgendwie fühle ich mich ganz schlecht, weil ich das, was die Kritiker so toll finden, nicht finden kann.
Nun denn, ich stelle mir das ganze mit einer Frauenfigur schon mal interessanter vor.
Hast du auch schon Bücher gelesen, die alle anderen ganz toll fanden, nur du nicht?

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Marion Poschmann
Die Kieferninseln
Suhrkamp, 20,- €

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Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.
Die Kieferninseln gewann den Buchpreis 2017 nicht, war aber immerhin auf der Shortlist.
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article168556029/Die-Shortlist-des-Deutschen-Buchpreises-ist-da.html
https://www.sueddeutsche.de/kultur/literatur-der-deutsche-buchpreis-geht-an-robert-menasse-1.3701330

 

 

Japanbücher – Teil 2 von 5

Die Ladenhüterin von Sayaka Murata – Japan live, Alltag im Konbini

Der Titel ist ein herrliches Wortspiel – ich weiß allerdings nicht ob es im japanisch Originaltitel auch so hin haut, ich mag so was ja gern. Die Ladenhüterin hütet das Konbini, ein japanischer 24h Supermarkt, in welchem Angestellte aus der Umgebung auch ihr Mittagsessen herbekommen. Ziemlich gut beschrieben, ich zumindest bekam gleich ein Gefühl dafür.
Außerdem ist die junge Frau eine Ladenhüterin in dem Sinn, daß sie schon über das übliche gesellschaftliche Alter zum heiraten hinaus ist, und da auch nichts in Aussicht steht. Die Familie und die wenigen Bekannten bedenken Keiko, so ihr Name, deshalb schon immer reichhaltig mit Ratschlägen. Die sie sich fast staunend anhört.

Keiko Furukura berichtet persönlich von ihrem Alltag im Verkaufsshop und ihren sensiblen Beobachtungen. Sie hat einen echten Blick für Details und hört auch ganz genau hin. Sie geht vollkommen auf in ihrem Konbini, obwohl sie nur als Aushilfe angestellt ist. Eigentlich ist das ganze nämlich ein Studentenjob, sie hat ihn aber schon viele Jahre und ist damit eine echte Ausnahme.
Wir erfahren einiges aus ihrer Kindheit, über ihre Familie, oder z.b. das sie weniger emotional war als andere Kinder und einen gewissen Hang zur „Gewalttätigkeit“ – oder ist es Pragmatismus, fehlendes Mitgefühl? hatte.
Sie merkt schon als Kind, daß die Menschen auf sie irritiert reagieren und beginnt von da an sich besser anzupassen, beobachtet ganz genau. Übernimmt sogar Stimme und Betonung, aber auch Verhaltensweisen.
Durch ihre Beobachtungen führt sie uns die moderne Gesellschaft in Japan vor, die nicht viel anders ist als auch in Deutschland. Es gibt viele Normen, und nur wenn man diesen folgt ist man Normal. Die Protagonistin z.b. ist der Norm nach eigentlich viel zu alt um in diesem Supermarkt zu arbeiten und noch nicht verheiratet zu sein. Das Ding ist, sie strebt nichts anderes an. Ihre Arbeitsstelle ist einfach ihr Ding. Dort gibt es klare Regeln und Abläufe die Sie aus dem FF beherrscht und denen Sie folgt als wären es Tanzschritte. Im Grunde lebt sie für den Konbini.
Sie hat aber durchaus noch Kontakte zu alten Bekannten aus der Schulzeit und zu ihrer Familie. Die Urteile die ihr entgegen schwappen verunsichern Sie in soweit das Sie überlegt was Sie tun kann um nicht weiter aufzufallen und weitere Urteile oder komische Blicke auf sich zu ziehen. Auch wünscht Sie sich das ihre Familie glücklich ist und sich keine Sorgen macht.

So klar wie hier im Buch diese ganzen Normen und Verhaltensweisen angesprochen werden, auch von den einzelnen Darstellern, das hat schon etwas extremes. Die Vorstellung nur wenn der andere dem entspricht was ich von ihm/ihr erwarte, nur dann ist es gut, ist eine Aussage die rüberkommt. Die gesellschaftliche Norm steht über dem individuellen Lebensvorstellungen.

Keiko versucht auch dem zu entsprechen, ziemlich ernsthaft sogar, aber das tut sie nicht für sich.

Ein weiteres interessantes Thema, welches durch die Beobachtungen Keikos hervorspringt ist die Ähnlichkeit von Gruppen untereinander. die sich so ergeben oder nach und nach durch den täglichen Umgang entstehen. Ja, alles hat eben so seine Wirkung auf uns, die Räume, die Menschen, alles was uns so umgibt. Umso schöner finde ich wie Keiko doch trotz allem Sie selbst bleibt. Eine schöne und auch etwas schräge Geschichte mit einer besonderen Heldin.

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Die Ladenhüterin von Sayaka Murata
Übersetzer/in
Ursula Gräfe

18,00 € , Aufbau Verlag

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Sayaka Murata wurde 1979 in der Präfektur Chiba, Japan, geboren und arbeitet selbst in einem Konbini. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie bereits mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Noma-Literaturpreis für Nachwuchsschriftsteller und den Mishima-Yukio-Preis. Ihr Roman „Die Ladenhüterin“ gewann 2016 mit dem Akutagawa-Preis den renommiertesten Literaturpreis Japans.

https://www.zdf.de/kultur/aspekte/videos/sayaka-murata-roman-die-ladenhueterin-100.html

 

Am Strand – Der Film

Endlich mal wieder ins Kino, darauf hab ich mich gefreut. Ich habe Kinokarten gewonnen, für die Buchverfilmung eines meiner Lieblingsautoren. Ja, manchmal mache ich auch Ausnahmen und lese zwischendurch wieder etwas von Männern. Wobei es viele Jahre her ist, als ich „Am Strand“ das erste mal las – noch vor meiner Konzentration auf Bücher von Frauen.

„Am Strand“, „On Cesil Beach“ der Originaltitel, eine Literaturverfilmung nach dem Buch von Ian McEwan. Auch wenn die Begebenheiten vor allem in den 60igern spielen, ist diese Geschichte immer noch eine Geschichte für unsere Zeiten. Ein Lehrstück dafür,  was passieren kann, wenn Erwartungen meilenweit auseinanderdriften, nicht genug geredet wird und die Konventionen wichtige Momente den Bach runter gehen lassen und Ozeane von Entfernungen entstehen.
Zwei junge Menschen, Florence Ponting (Saoirse Ronan) und Edward Mayhew (Billy Howle), begegnen sich, kommen sich näher und verlieben sich. Es wird geheiratet. Wir treffen die beiden in ihrer Hochzeitsnacht in einem Hotel am „Cesil Beach“ (ist erfunden, ebenso das Hotel).

 

Die Verfilmung hält sich eng an das Buch, aber es gibt einige entscheidende Unterschiede. Eine, vielleicht eher subjektive, Florence erscheint mir im Film viel selbstbewußter als im Buch. Vieles was im Buch aus dem Off kommt, wird hier von den beiden Protagonisten nun doch ausgesprochen. Holt viel nach vorn, was eigentlich im Original jeder für sich behält. Ich denke, man hätte es durchaus noch etwas subtiler gestalten können. Aber das ist wohl sicher immer wieder die Frage bei einer Buchverfilmung: Wie stellt man Gedanken dar oder einen Erzähler/eine Erzählerin?

Zwei junge Menschen

Edward wächst in einer etwas wilden Familienkonstellation auf, die aber unheimlich viel Sympathie ausstrahlt. Die Mutter verunglückte als Edward ein Kind war und ist seitdem sehr durcheinander. „Gehirngeschädigt“ ist der Begriff, den sein Vater gebraucht und der Edward so einiges klar macht. So wachsen er und seine Zwillingsschwestern in einem sehr chaotischem, aber ganz bezaubernden kleinem Haus auf. Es ist ihre Normalität. Der Vater, ein Grundschuldirektor, liebt seine Familie, aber schafft es kaum für Ordnung zu sorgen. Einige der schönsten Szenen spielen sich in genau diesem Haus ab; als Florence zu Besuch kommt. Sie nimmt Kontakt zu Edwards Mutter auf – hier sehen wir z.B. so gar keine Berührungsängste – hilft beim aufräumen und kocht sogar. Die ganze Familie verliebt sich sofort in sie. Edward ist zutiefst gerührt. Ein Film in welchem auch Männer Tränen fließen lassen, zumindest Edward.

Florence´s eigene Familie ist eher kühl, eine andere Klasse, Geld ist da. Sie studiert Geige und möchte auf die Bühne. Der Vater ist sozusagen Industrieller, und als wir ihm begegnen fällt auf, wie er Florence begrüßt. Die Mutter nennt das gekonnte Geigenspiel der Tochter Gefidel. Das beeindruckt Florence zum Glück wenig. Sie gründet ein Quartett und hat große Pläne.
Übrigens wunderschöne klassische Musik im Film. Ich habe einige Stücke ganz unten für euch notiert.

Als die Hochzeit näher rückt, beginnt Florence sich mit dem Thema Sex näher zu befassen und verspürt ein großes Gruseln bis hin zum Ekel. Ihrer jüngeren Schwester kann sie sich anvertrauen, aber sonst hat sie niemanden mit dem sie drüber sprechen kann. So normal auch die Nähe und der Körperkontakt zwischen den beiden zu sein scheint, alles was über Händchenhalten, Umarmen und Küssen hinaus geht, findet Florence wenig verlockend. Edward dagegen ist ganz verliebt in ihre Schönheit, aber auch rücksichtsvoll und bemerkt nichts davon.

Die Hochzeitsnacht

Der Film beginnt am Abend der Hochzeit im Hotelzimmer des frisch getrauten Paares – hier sind wir dem Buch ganz nah. Ein Essen auf dem Zimmer, unter der Beobachtung der Kellner. Zwischen Erwartungsdruck, Aufregung, Konventionen und der daraus folgenden „Steifheit“ der Situation, wird uns aber auch viel Liebe gezeigt und das Bemühen der beiden, das anzugehen, was sie denkt, was nun erwartet wird und das, was er sich schon so lange wünscht. Das wonach er sich sehnt und das, was sie so gerne auslassen würde.
Die Situation im Film wird immer wieder unterbrochen mit Bildern aus der Zeit vorher. Wunderschön fand ich die Kameraführung, die immer respektvoll dort Abstand hält, wo es nötig ist, nichts ans Licht zerrt, nichts ins Blickfeld rückt, was nicht nötig ist und mit großer Sorgfalt agiert. Ich war gespannt, wie gewisse Szenen im Film gezeigt werden. Da, wo es viel um Stimmungen, Gefühle und Ängste geht, die zwischen „Nähe“, „Küssen“ und „Luftholen“ stattfinden. Da wo man im Buch verfolgen kann, wie Edward das Ängstliche und Nervöse seiner Frau als Lust deutet. Und Florence nach vorne flüchtet, um irgendwie doch zu entkommen.
Schon das Ausziehen wird fast zu einer Belustigung. Wenn man da nicht diese große Unsicherheit und Besorgnis hindurch spüren würde. Beide furchtbar nervös. Florence versucht ihr bestes, wir sehen aber auch ihre angespannten Hände. Und dann passiert ein Missgeschick. Die Situation kippt vollends. Kurz sehen wir Florence – und Andeutungen. Ein Flashback? Also eine traumatische kurze Erinnerung.
Die Darstellung ist durchaus gelungen. Die kleinen Momente werden wunderbar ausgelotet und genau richtig beleuchtet.

Florence scheint so sehr auf sich bezogen, dass es ihr wohl nicht möglich ist, die andere Seite wirklich zu sehen. Aber vielleicht weiß sie auch einfach nicht wie. Ich hatte die Geschichte ganz anders in Erinnerung und bin nun selbst ganz überrascht davon, was ich behalten habe und was nicht. Es ist eben nicht nur ein stürmischer junger Mann, der keine Rücksicht nimmt, aber wohl einer der hilflos ist und nicht weiß, was er tun soll. Dessen Stolz so sehr verletzt wird, und der wohl den Eindruck gewinnt, unter Prämissen geheiratet zu haben, die vorher nicht klar waren. Florence dagegen hat sich schon etwas zurecht gelegt und überlegt, wie Sie ihrem Mann entgegen kommen kann, und anscheinend ist das ihre einzige Lösung. Vielleicht braucht sie körperliche Lust nicht, weil sie alles in der Musik findet. Oder das, was im Film kurz angedeutet wird, steht ihr im Weg.

Kino

Die große Leinwand im Kino und das Soundsystem in solchen Sälen machen sehr viel aus, und ziehen einen zusätzlich richtig in den Film hinein. Aber auch die Kamera, die einerseits weite Landschaften zeigt, Füße und Beine beim Gehen verfolgt oder Details ins Visier nimmt, die sehr ausschlaggebend sind, ist ganz fabelhaft.

Ich hatte heute den Kinosaal ganz  für mich. Da haben einige Menschen etwas verpasst. Aber diese Geschichte ist eben nicht einfach, nicht laut, nicht actiongeladen und schrill, aber tiefgehend, ziemlich herzzerreißend und voller wunderschöner Bilder.

Florence und Edward beim Picknick, auf dem Crocketfeld, beim Spazieren, Edwards Elternhaus, die Landschaft, das Meer, der Strand. Die Farben. Sehr schöne Kostüme. Die oft die Differenz zwischen den beiden jungen Leuten auf vorsichtige Weise unterstreicht – sie, die gepflegte konservative Frau der klassischen Musik. Er, der etwas wilde Naturbursche, mit einem Hang zum Rock´n Roll.

Das Schauspiel und die Geschichte

Saoirse Ronan, die die Florence Ponting spielt, hatte ich erst kürzlich nochmal in „Abbitte“ gesehen, da war sie noch ein Kind. In beiden Filmen spielt sie die weibliche Hauptrolle, und das exzellent. In beiden Filmen hat die Figur jeweils etwas in dem sie ganz aufgeht. In Abbitte sind es die selbst erfundenen Geschichten und die überbordende Phantasie und hier in „Am Strand“ ist es die klassische Musik und das Geigenspiel. „Am Strand“ ist eine ganz typische Ian McEwan Geschichte, die kleinen Begebenheiten, Unausgesprochenes, zuviel Gedachtes, was sich zu großen Dramen auswächst und allerschmerzlichst endet, die Leben der Beteiligten zutiefst prägen. Es gibt keine guten Enden. Ich mag das, auch wenn es sehr traurig ist. Aber es ist einfach so nah dran am echten Leben, wo es eben selten dieses „Friede Freude Eierkuchen Happyend“ gibt, wie in so vielen anderen Filmen. Ich glaube das ist auch das, was so betört; vor allem, wenn man selbst diese tragischen und schmerzhaften Seiten des Lebens kennt, lässt sich hier viel Resonanz spüren.

Was mich am Kino ein wenig stört ist, dass ich dort nicht so ungehemmt weinen kann, wie Zuhause. Ihr braucht auf jedenfall Taschentücher.

Einige der klassischen Stücke

J.S. Bach: Partita for Violin Solo No. 3 in E Major, BWV 1006-1. Preludio
Beethoven: String Quartet in B Flat Major, Op. 130-6. Finale (Allegro)
Haydn: String Quartet in G Major, Hob. III:81 (Op.77 No.1) – 1. Allegro moderato
Schubert: String Quartet No. 14 in D Minor, D. 810″ Death and the Maiden – 1. Allegro
J.S. Bach: Suite for Cello Solo No. 1 in G Major, BWV 1007-1. Prélude
Schubert: String Quartet No. 14 in D Minor, D. 810″ Death and the Maiden – 2. Andante con moto
Mozart: String Quintet in D Major, K.593-1. Larghetto – Allegro
Rachmaninov: Symphonic Dances, Op. 45-1. Non allegro

Achtung Spoiler zum Ende des Films:
Noch im gegenseitigen Verlassen gestehen sich die beiden doch ihre Liebe. Edward aber zu wütend und zu geschockt, vermutlich über den Vorschlag seiner Frau, bleibt am Strand zurück, während Florence alleine ins Hotel geht und ihre Sachen packt. Sie sehen sich nicht wieder. Die Ehe wird schriftlich anuliert – der Briefverkehr findet nur zwischen den Eltern statt. Man bleibt als Zuschauer irgendwie fassungslos zurück und fragt sich, wie das so laufen konnte. Für mich war es immer der Punkt, wo Edward ihr nicht nachläuft; jetzt ist es für mich aber auch der Punkt, wo Florence einfach geht.
Vor allem wenn man zum Ende hin erfährt, das Florence dann ihren ewig um sie werbenden Musikerkollegen geheiratet hat und mit ihm drei Kinder bekam. Edward bleibt alleine und überwindet diese Nacht nie.

Als ich Florence in ihrem türkisen Kleid so steif auf dem Bett liegen sah, bereit die Dinge über sich ergehen zu lassen, habe ich mich auch gefragt, wieviele Frauen das heute immer noch tun. Als junge sexuell unerfahrene Frauen, aber auch später…

In Erinnerung hatte ich, dass Edward derjenige war, der das ganze „verdorben“ hat und zu stolz war hinter seiner Frau her zulaufen. Sicher ist daran auch etwas wahr. Aber Florence hat eben auch ihren Anteil. Es wird nicht ganz klar. Aber wann ist es das schon. Wir wissen nur, etwas Schönes fand ein überaus schmerzliches Ende.

Ich habe noch eine Kinokarte zu verschenken, schreib mir wenn du sie haben möchtest.

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Buch:
Ian Mc Ewan
„Am Strand“
Taschenbuch
208 Seiten / 2008
Diogenes Verlag
10,00 €

Film:
Am Strand bzw. On Cesil Beach
von Dominic Cooke , 2018

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Leinensee – Anne Reinecke

„Leinsee“ ist der erste Roman von Anne Reinecke. Er wurde schon hochgelobt und ist nominiert für den Debütpreis der LitCologne 2018, außerdem gab es ein Stipendium der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin für das Manuskript Leinsee im Jahr 2012. Hier sieht man, dass es doch eine Weile dauert bis man so ein feines Werk zustande bekommt.
Ich hatte das Ganze als Hörbuch, und das war eine sehr gute Entscheidung, wie ich dann feststellen durfte. Der Lesende, der Schauspieler Franz Dinda, war ganz wunderbar. Seine Stimme, ja seine ganze Person scheint komplett mit Karl verbunden. Ich war gar nicht mehr so am zuhören, sondern regelrecht mittendrin.
Am Anfang habe ich mich gefragt warum ein Mann die Geschichte liest, obwohl es eine Frau geschrieben hat. Und klar frage ich mich auch wieder warum eine Frau einen männlichen Protagonisten wählt – davon gibt es ja nun mal schon sehr viele.
Wie wäre die Geschichte gewesen wenn es eine junge Künstlerin gewesen wäre? Nun ich denke der Rahmen des ganzen hätte erhebliche Probleme gemacht. Denn der junge Karl ist schon recht bekannt in der Szene, und es ist nun mal so, dass auch hier die Männer erheblich mehr Chancen haben, wenn wir die Realität betrachten. Aber die Literatur ist ja durchaus auch da um anderes auszuloten.

*Achtung in diesem Artikel wird gespoilert*

Auch ein anderer Handlungsstrang wäre sehr viel „schwieriger“ gewesen, wenn es eine Künstlerin gewesen wäre. Dazu gleich mehr. Ich denke es ist schon ausschlaggebend, das die ganze Geschichte eingebettet ist in einen großen Reichtum. Das dieser Reichtum durch das „Kunst machen“ entstand, gibt dem ganzen natürlich eine gewisse Coolheit. Die Kunst wird sehr ausgiebig thematisiert, was mir, als ehemalige Kunststudentin, sehr gut gefallen hat. Es ist nicht irgendeine Kunst, sondern schon was spezielles, es geht um Objektkunst. Um das sammeln und bewahren und um Erinnerungen. Auf einer anderen Ebene um weiches und lebendiges was sich später in er ausgehärteten Masse wiederfindet. Eine schöne Symbolik.
Auch dem jungen Karl geht es erstmal viel um Erinnerungen. Ich würde sagen das erste Drittel der Geschichte ist damit gefüllt.
Der junge und erfolgreiche Künstler Karl bekommt die Nachricht über den Tod des Vaters, den er seit Jahren nicht gesehen hat. Der Vater hat sich suizidiert, weil er ohne die Frau an seiner Seite nicht mehr leben wollte. Die Mutter des Künstlers ist nämlich schwer erkrankt.
Der Vater hat sich auch hier am Schluß davon gestohlen.
Auch die Eltern waren Künstler, und zwar sehr bekannte. Der Sohn hat unter einem anderen Namen gearbeitet – er wollte seinen eigenen Weg gehen. Und das hat sehr erfolgreich funktioniert.
Nun wird er mit seiner Vergangenheit und dem Leben seiner Eltern konfrontiert. Übernimmt sozusagen ihr Haus, Atelier und Grundstück. Besucht die Mutter, die ihn nicht erkennt.
Karl bleibt und eignet sich die Vergangenheit inklusive Haus, Grundstück und Kunstwerken an. Das verändert viel für ihn und sein bisheriges Leben. Einfach ist es nicht aber durchaus aufregend und neu.
Und dann treffen wir Tanja, neben Karl und der Kunst im Roman, die dritte Hauptfigur. Ein Kind aus der Nachbarschaft, mit dem Karl sich anfreundet. Ein Kind, was auch ihn seine kindliche Seite ausleben läßt. Welches aber ganz ohne weitere Verbindung zu sein scheint. Die Figur schwebt förmlich in Karls Kosmos, und scheinbar nur dort. Es beginnt eine Art großes Spiel, welches ihn wiederum sehr mit der Arbeit seiner Eltern verbindet. Auch mit der Mutter kann nochmal eine neue Art von Beziehung beginnen, auf den letzten Metern.

Mir hat die Geschichte sehr gefallen, nur gegen Ende hin empfand ich eine Schwäche in der Beschreibung der Beziehung von Karl und Tanja, die vielleicht so etwas wie seelenverwandt sind. Es war CD 5 von 6. Da rutscht Anne Reinecke zu schnell über die Veränderung hinweg, meiner Meinung nach, das hat mir richtig einen Stich versetzt beim hören. Eine andere Leserin schrieb sowas in der Art, wie dass sie es toll fände das es zwischen Karl und Tanja, die beiden Hauptfiguren, so gar nicht komisch war in der Geschichte. Mir dagegen hat dieses „komisch“ gefehlt. Es bleibt für mich ein wenig flach – wo wir doch vorher auch viel an Karls Gedanken beteiligt werden, hier fehlen sie an der Stelle wo der große Altersunterschied zwischen Karl und Tanja immer wieder doch irgendwie Thema ist, und über den sehr schnellen Lauf der Jahre, als Tanja vom Mädchen zur jungen Frau heranwächst. Es wird schon versucht das in einigen Bildern darzustellen, aber mir geht das alles zu rund und zu einfach. Ich würde sagen „gerade in unseren Zeiten“, da würde doch sofort Verdacht aufkommen, wenn ein erwachsener Mann und ein kleines Mädchen befreundet sind. Vielleicht ist das alles auch viel zu heimlich, aber über eine so lange Zeit? Da ist niemand groß, der diesen kleinen Kosmos wirklich stört, bis auf einmal, dem auch eine lange Pause folgt und ein ganz selbstverständliches Wiedertreffen.

Ich freue mich auf mehr von dieser Autorin und bin gespannt auf die Themen.

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Hörbuch
6 CD , 7 Std. 39 Min.
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 27.00

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