Als kleines weihnachtliches Geschenk gibt es heute für meine LeserInnen einen Text von mir zum Thema Kunstbetrachtung, Motto war das Wort Lee(h)rstelle: (Ich bitte das Copyright zu beachten und bei Zitaten o.ä. die Quelle zu nennen, Danke)
Viel Freude damit
Ode an die Leerstelle – Aufforderung zur Nutzung des eigenen Denkraumes
Liebe/r KünstlerInn, Liebe Konsumenten, haben Sie sie bemerkt? Diese zarte Stelle? Diesen kleinen Zwischraum? Diese Leerstelle? Zwischen dem Werk und Ihnen als Betrachter, Konsument oder Rezipient? Eine Lücke, eine perfekte und absolute Lee(h)rstelle. Ein Raum voller Möglichkeiten. Die Leere ist mehr als ein Nichts. Sie ist ungefüllter Raum. Ein Denkraum; der Ihnen zur freien Verfügung steht. Den Sie füllen dürfen! Die eigentliche und wirkliche Bedeutung eines Werkes geschieht genau an dieser Stelle wenn das Werk mit dem Schauenden zusammentrifft. Wobei dies auch eine andere Bedeutung sein kann, als die, die der Künstler meinte. Denkt der Künstler eigentlich auch an den Betrachter, so wie der Betrachter an den Künstler?
In der Kunst gibt es eine große Menge an Lee(h)rstellen. Soviele wie es Fragen gibt. Überhaupt ist die Kunst in meinen Augen doch mehr eine große Frage, denn das Sie eine Antwort gibt. Bei der Frage nach dem Wert der gefühlten Lee(h)rstelle oder auch der Tatsächlichen, verliere ich mich schnell in all den Fragen an die Kunst und auch an den Wert. Das gute an den Fragen ist, sie können immer wieder neu gestellt werden. Und jede Zeit hat ihre eigenen Fragen, genauso wie jeder Fragensteller.
Es ist schwer zu bewerten Was und Wie künstlerisches Schaffen ist. Denn ist es nicht so, das es in der Kunst nichts Objektives gibt, da Sie rein durch die Art der Entstehung und Betrachtung, Subjekt und subjektiv ist?
Ganz einfach weil es um die Seele, Kandinsky würde sagen um das „Geistige“, in der Kunst geht. Die Seele des Schaffenden/Erschaffenden, die Seele des Werkes und die Seele des Betrachters.
Der Inhalt/der Wert des Werkes, im Sinne von Gewicht, Bedeutung, das was wir interpretieren, ist immer auch das, was wir sehen; und einen Schritt weiter, das was wir sehen wollen. Was wir jeder mit unseren eigenem Kopf und unserem Ich, mit unserer eigenen kleinen Welt, hineindeuten und herrausinterpretieren.
Das ist für mich die erste Stufe des Wertes, den ein Kunstwerk hat. Die Zweite Stufe wird sich erst mit der Zeit zeigen. Die Zeit, die ein Werk als „Wertvoll“ bestehen wird. Das Werk welches die Zeit überdauert. Das was „gut“ ist, wird bestehen bleiben.
Doch zuerst geht es immer um das Jetzt, den Augenblick des Betrachtens. Den Augenblick in welchem Sie die Möglichkeit haben die Lee(h)rstelle zu füllen. Mit Ihren eigenen Gedanken und Ihrem eigenem Gefühl.
Gewiss kann es nicht schaden über Wissen zu verfügen. Und es kann hilfreich sein Kritiken zu lesen und mit anderen über ein Werk zu kommunizieren.
In Kritiken und Artikeln wird sich stets bemüht,etwas an Worten zu finden was das Werk beschreibt, ihm irgendwie nahe kommt, es auseinandernimmt, und erklärt, was in meinen Augen nur teilweise gelingen wird, weil Kunst so subjektiv ist, wie die Welt jedes einzelnen Betrachters.
Bei manchen Ausstellungstexten scheint mir die Suche nach dieser Beschreibung schon fast verzweifelt zu sein. Möglichst sich steigernde Worte, groß und vollmundig, gern leicht poetisch oder auch provokant. Was generell in der Kunstwelt etwas zu sein scheint das den Wert eines Werkes zuerst einmal steigert – die Provokation. Porno, Tod, Konsum, Politik etc. (Siehe D. Hirst, B.Kruger, Gonzales-Torres, J.Wall, T. Emin, M. Abramovic um nur einige zu nennen) haben gute Chancen bemerkt zu werden.
Dazu fällt mir die Offstimme am Anfang eines Filmes (L.A.Crash/2004/Paul Haggis) ein, die in etwa sagte : „Manchmal müssen die Menschen zusammenknallen um überhaupt noch etwas zu spüren“.
Und wenn die Zuhörer laut lachen, dann nicht weil es lustig ist, sondern weil Sie sich abgrenzen. Weil Fragen aufgeworfen werden, Finger in Wunden treffen. Ja, provokante Fragen, die es trotzdem, oder eben unbedingt, gilt zu beantworten. Wenn das nicht geht, dann wird sich abgegrenzt und negiert. Für mich kann Kunst trotzdem nicht allein aus Provokation bestehen. Aber auch diese hat ihre Berechtigung und ist es wert „angeschaut“ zu werden. Viele andere Werke, die eher das Zarte sprechen lassen, brauchen eine andere Art von Aufmerksamkeit, hier gilt es genauer hinzuschauen, zu fühlen und zu lauschen.
Es sind die alten immerwährenden Themen, für die man nie abschließende Antworten finden wird, bzw. jeder seine eigene, oder immer wieder Neue, die bewegen. Deswegen werden es immer Themen bleiben.
Dazu gehört auch diese Lee(h)rstelle. Für ein eigenes Erfahren! Frei nach Goethe, mit den eigenen 5 Sinnen wach sein, erfahren und erforschen. Durch eigenes Erfahren ist immer mehr und besser gelernt, als durch bloßes übernehmen eines Wertes der von anderen geschaffen bzw. festgelegt wurde. Das einzige was Sie dafür brauchen ist Zeit. Zeit die Sie sich nehmen sollten.
Liebe(r) LeserInn verlassen Sie sich nicht auf Worte, vorallem nicht auf Worte die nicht die Ihren sind. Und vorallem nicht als einziges und nicht zu allererst. Warten Sie bevor Sie etwas über ein Werk lesen. Warten Sie und nutzen Sie die Lee(h)rstelle zwischen dem Werk und Ihnen. Schauen Sie selbst. Horchen Sie in sich hinein was es in und mit Ihnen macht. Wo es Sie berührt und ob vielleicht ein leichter Duft ihre Naseflügel erbeben läßt. Ob Sie ein Gefühl überkommt, jetzt sofort herantreten zu müssen um mit Ihren eigenen Fingerkuppen sanft über die Textur zu streichen (Vorsicht Alarmanlage oder Aufsicht). Klopft Ihr Herz? Bleibt es stehen? Atmen Sie noch? Oder ist da ein unterdrücktes Gähnen? Kunst ist etwas was den Körper mit einbezieht, weil Kunst betrachten eine körperliche Erfahrung ist. Weil Kunst Präsenz zeigt, und Raum einnimmt, und eben nicht nur mit den Augen erfahren wird.
Ich wage zu behaupten das es, außer für die Künstler und die Kunsthändler/Kritiker/Galeristen, fast egal ist was der Künstler sagen will, und ob er/sie überhaupt etwas zu sagen hat. Viel wichtiger scheint mir was das Werk beim Empfänger auslöst. Ich weiß nicht ob es dafür wichtig ist wieviel Erfahrung hinter dem Werk steckt, und welche Intensität es ausstrahlt. Denn ich bin mir sehr unsicher ob das überhaupt festzustellen ist oder auch nur einer Übereinstimmung der Mehrheit bedarf.
Trotzdem plädiere ich für Inhalt, für Tiefe, für Gelebtes und Echtes. Wobei dies eben schwer in Kategorien zu packen ist. Und ich glaube auch niemandem so richtig, der behauptet das es geht. Was für mich die pure Dekoration ist oder einfach nur flache Pinselei ist für den anderen vielleicht schon eine kleine Offenbarung, und sei es nur um des Willens der Farbe oder des Materials. Oft sind die einfachen Dinge, die Besseren.
Wenn mich ein Stück Material zutiefst bewegt kann es sein, das der andere es gar nicht wahrnimmt, schon gar nicht als Kunst. Und sind denn heute die Grenzen nicht auch so fließend zwischen allem das Sie kaum noch auszumachen sind. Für den einen ist es Kunst für den anderen vielleicht nur ein durcheinander von Materie oder Nichtmaterie.
Ich möchte dem Künstler/der Künstlerin keineswegs die Bedeutung verwehren, ganz im Gegenteil; Sie sind die Beweger, die Aufforderer, die Antreiber und Fragensteller – genauer hinzuschauen, Fragen zu stellen und vielleicht auch Antworten zu finden, sich mit Themen zu beschäftigen die relevant sind für den Menschen und das wirklich menschliche. Dies möchte ich hier gern auch als Aufforderung stehen lassen, genau dies auch zu sein.
Eine Kultur, eine Gesellschaft, das was wir Zivilistaion nennen braucht die Kunst. Allein um sich nicht ganz zu verlieren. Um Bodenhaftung zu bewahren, Ethik zu verteidigen und Moral zu hinterfragen. Vielleicht ist die Kunst (und ich begreife die Kunst als einen Teil von Kultur und Sozialem) auch ganz allein das, was eine Zivilisation ausmacht. Was uns davor bewahrt zu verrohen, und in eine Wildheit, die mehr dem tierischen überleben des Stärkeren entspricht, zurückzufallen.
Eine Gesellschaft braucht die Kunst als Katalysator und Fragensteller. Frei nach der Beuyschen Sozialen Plastik.
Die Kunst kann uns berühren. Da wo Wir uns treffen lassen. Natürlich die Bereitschaft vorrausgesetzt, daß Wir uns als Betrachter dem Werk öffnen möchten. Bereit sind fühlend hinzuschauen. Und schauend zu fühlen. Und ich denke wenn Sie bereit sind sich zu öffnen, und mutig genug sich berühren zu lassen, werden Sie anders schauen können, auf die feinen und kleinen, zarten und flirrenden Werke, genauso wie auf die provokanten Arbeiten, und Zugang nicht nur zum Werk, sondern auch zu Ihrem eigenem Inneren finden. Zugang zu dem was Sie berührt. Vielleicht das was unsere Welt an emotionaler Leere in uns hat wachsen lassen, wieder zu füllen.
Wir lernen, können und dürfen lernen, aus diesen Lehrstellen herraus und das fühlen und füllen was da ist als Leerstelle, mit uns und durch das Werk. Nutzen Sie die Lee(h)rstelle!
[…] „und die Kunst im ganzen ist nicht ein zweckloses Schaffen der Dinge, die im leeren zerfließen, sondern eine Macht, die zweckvoll ist, und muss der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen- ..Sie ist die Sprache, die in nur ihr eigener Form von Dingen zur Seele redet, … welches sie nur in dieser Form bekommen kann.“
Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst (1910)
passende Sendung auf Deutschlandfunk zu Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ http://www.deutschlandradiokultur.de/akustische-reise-zum-moench-am-meer-caspar-david-friedrichs.976.de.html?dram%3Aarticle_id=353302
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