In dieser speziellen Stille fanden sich alle Gäste nach und nach vor der kleinen Kapelle ein. Viele Menschen die ich noch nie gesehen habe oder sehr lange nicht mehr und auch viele bekannte Gesichter. Auch an diesem glühend heißen Sommertag alle vorbildlich in Schwarz gekleidet. „Getragen“ nennt man wohl diese Stimmung. Es war wie ein kleines Rollenspiel.
Ich war noch nicht auf allzu vielen Beerdigungen und die Abläufe sind mir immer noch nicht vertraut. Nie hat mir jemand etwas dazu erklärt, nie wurde ich weiter befragt, was ich dazu zu sagen habe oder mir wünsche, noch dass ich etwas mitgestaltet hätte, außer vielleicht das Grabgesteck … diesmal Rittersporn. Beim Einnehmen der Sitzplätze war schon unklar wer wo zu sitzen hat, zumindest saß wenigstens meine Schwester neben mir. Die Rede, des sonst sehr sympathischen Pfarrers, machte mich ärgerlich und erst heute wurde mir klar, dass der Verstorbene anscheinend echt was mit Glauben und Kirche am Hut hatte. Nicht zum ersten Mal hatte ich bei einer Beerdigungsrede den Eindruck, dass da von einer anderen Person gesprochen wurde als die, die ich gekannt habe. Es war trotz der extremen Hitze draußen kalt in der kleinen Kapelle, die Stuhlgruppen standen in einem rechten Winkel zueinander und ich fühlte mich beobachtet auf meinem Stuhl am Rand. Es war furchtbar unbequem.
Das Heulen – woher auch immer es kam, machte Druck in meiner Kehle und stieg den Hals weiter hinauf bis in den Kopf, verkrampft und fröstelnd saß ich auf meinem Platz. Irgendwann konnte ich es nicht mehr aufhalten, … liefen die Tränen einfach. Aber nur ganz vorsichtig und leise traute ich mich in mein Papiertaschentuch zu schnauben. Bloß keinen Ton von sich geben. Auch die anderen zückten nur verschämt hier und da ein Taschentuch.
Als wir dann aus der Kapelle stolperten, gab es wieder so kleine Ordnungsprobleme, wer wie und wo den Urnenträgern hinterherlief. Eine Zeremonie mit festen Regeln, die keiner kennt, wenn es nicht so traurig wäre, wärs echt zum Schieflachen. Die Trompetenspieler begleiteten uns mit ihrem wunderschönen Spiel und die Töne trugen uns den Weg entlang. Die heiße Sonne trocknete die Tränen – ist ja jetzt auch mal gut, nicht. Eng standen wir aufgereiht im schmalen Gang zwischen den niedrigen Hecken und kleinen Urnengräbern. Unsicher und irgendwie steif. Ich spüre es innerlich brodeln, wenn ich daran denke. Eine immense Kraft und den Wunsch auszubrechen. Nur gerade so geht es. Dunkel pocht es unter der dünnen Haut. Die wilde Frau in mir, die sich nur knapp bändigen lässt.
Jammern und Klagen, bei uns doch verpönt. Bei Trauer vielleicht kurzfristig erlaubt, aber dann doch soll man sich auch mal wieder zusammenreißen, einkriegen, ruhig sein. Beschwörung des „alles ist gut„ … und hey, nein das ist es eben nicht, und das ist auch kein Trost. Wenn alles gut wäre würdest Du mich jammern und klagen lassen, mir mein Gefühl zugestehen oder allen anderen die es sich noch trauen zu zeigen, die sich vielleicht gar keinen Kopf machen und einfach sind, wie Sie gerade sind.
Ich denke an das Geheul der Wölfin – La Loba (Die Wolfsfrau erzählt), ich denke an das eigene Heulen, was für eine kurze Zeit morgens direkt nach dem Aufwachen und den ersten unklaren, noch freien Sekunden wie ein Sturm über mich hereinbricht und meinen Körper überrollt, so sehr das mir zum Kotzen zumute ist und später als ich es mir nicht mehr erlaube, implodiert.
Was braucht es, um den Ton nach außen zu lassen? Töne zu machen, Laute auszustoßen in einer reglementierten Welt, in welcher dem kleinsten Baby schon das Weinen abtrainiert werden soll, „pscht, still„. Der Ausdruck von Schmerz niedergemacht wird mit der Erklärung, dass das, was man empfindet, nicht wahr sei und man gefälligst anders sein solle … solang und so sehr, bis man seine Gefühle schon gar nicht mehr kennt und sich heimlich fragt, was mit einem nicht stimmt, weil man das alles so gar nicht so sieht, wie man es gesagt bekommt und irgendwie auch gar nicht mehr so richtig fühlt und alles mit dem Kopf angeht. Ein Bauchgefühl nur noch vorhanden ist in Form von Unwohlsein und Schmerz, von Magen-Darm-Problemen und Menstruationsbeschwerden.
Eine Welt, in der alles geordnet abläuft, und man herausfällt, wenn das Innere im Außen Ausdruck findet. Früher wurde mir verboten zu singen, weil es anscheinend so schlimm klang, zu sprechen hat man ruhig, und zu heulen gar nicht. La Loba La Loba*, wo ist dein Geheul?
Wie der Ton im Hals sitzt, das Schluchzen und das Elend, alles verkrampft… noch tagelang. Wie könnte man nur einfach laut sein, einfach sich gehen lassen, sich hingeben, fallen lassen, schreien, klagen, seufzen, greinen, jammern, heulen…
Gesittet läuft die Trauergemeinde den Urnenträgern hinterher, nur leises schnäuzen, und rote Augen sieht man… Bäche von Tränen stumm gestürzt, aus den Fenstern der Seele. Die Wangen hinunter, im versteckten und verschämten, gebeugte Köpfe, den Blick auf den Boden, Tränen den Hals entlang in den Ausschnitt hinein, zumindest bei den Frauen … Papiertaschentuch… feuchte Knäule in den Fäusten.
Wut… ein Pochen in den Schläfen, ein laut schlagendes Herz, ein Geheul, was sich aus der Kehle presst, ein Schrei in den Himmel, ein Kleid ungefärbt und ungebleicht. Geballte Fäuste. Kraft, die den ganzen Körper anspannt, ein Knurren tief aus dem Bauch, zusammengekniffene Augen, die letzte Tränen auspressen, fast schon Grimasse das Gesicht und mit einem Mal bricht sich der Ton in die Stille, ein Laut, ein Schluchzen und Jammern.
Heulen, wie es kommt, fast wie ein Gesang. Ein echtes Klagelied, ohne Worte, aber erdig und voll. Ein Kniefall zwischen den sauber geschnitten Hecken, der helle Stoff im Staub. So wie Rotz und Wasser im Gesicht. Gezeichnete Tränenspuren. Huhuuuuaaaaahhhhuuuu
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dies ist ein Text für die Blogparade vom Totenhemdblog:
https://totenhemd.wordpress.com/2016/10/04/unsere-november-blogaktion-ich-hab-mit-den-toten-getanzt/
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Vor einigen Jahren habe ich mich aufgrund meiner Arbeit in einer archäologischen Sammlung und einer Wanderausstellung intensiv mit dem Thema Totentanz beschäftigt – unglaublich was für eine Fülle an Literatur es zum Thema gibt – begriffen habe ich die Sache bis heute nicht, aber ich vermute einen Drang dahinter. Einem Drang nach Ausdruck, denn dem Tod entkommt keiner.
http://www.philosophieren-mit-kindern.de/erzaehl_vom_tod.html
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Ich erinnere mich gern an eine Szene aus „Six Feet Under“ in welcher der Protagonist Nate in einem Boot steht, unfähig seiner Trauer über den Tod seines Vater, Ausdruck zu verleihen, sein Blick Richtung Strand auf welchem sich schwarzgekleidete Klageweiber versammelt haben.
Eine wunderschöne Idee in der Serie ist, das all die Sterbenden ihre schon verstorbenen Liebsten sehen, sozusagen von Ihnen abgeholt werden. Ich finde das sehr tröstlich, diese Idee des Wiedersehens und abgeholt werdens.
http://www.serienjunkies.de/SixFeetUnder/alle-serien-staffeln.html
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Literatur:
*die Geschichte der La Loba erzählt von der Auferstehung. Die wilde Frau singt über den Knochen, die sorgsam zusammengetragen wurden, um ihnen neue Seelenkraft einzuhauchen.
„Die Wolfsfrau erzählt“ https://reingelesen.wordpress.com/2013/05/01/davor-die-wolfsfrau-erzahlt/
„Die Bücherdiebin“ – hier ist der Tod eine liebevolle Figur welche den gerade gestorbenen in die Arme schließt. Den Gedanken mag ich sehr.
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In vielen Kulturen gab es Klageweiber. Das waren Frauen die man dafür bezahlte anwesend zu sein und zu heulen und zu jammern und zu klagen. Ich denke das ergab auch eine Art Schutzraum in welchem man selbst besser weinen konnte, weil die Scham überwunden werden kann, wenn man nicht alleine ist mit seinem Geheul. Später fand das manchmal noch Ausdruck bei den Totenwachen.
Das Klageweib vor Christus: http://www.rhm.uni-koeln.de/138/Kudlien.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Klageweib
http://www.zeit.de/1990/11/flehen-der-klageweiber – das hätte ich gern gehört
http://www.spiegel.de/reise/staedte/schweiz-vom-duesteren-zug-der-klageweiber-a-72420.html